Neue Leitlinie erschafft Alzheimer ohne Demenz
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Neue Leitlinie

Mediziner erschaffen »Alzheimer ohne Demenz«

Diagnosegespräch von Ärztin mit Patient Alzzheimer

Wer eine leichte Kognitive Störung hat, soll künftig die Diagnose Alzheimer bekommen und Medikamente nehmen. Bild Adobe Stock

Die neue »Leitlinie Demenzen« sieht vor, dass Ärzte künftig Menschen zu Alzheimerpatienten erklären können, die gar nicht demenzkrank sind. Mehrere Autoren der Leitlinie stehen auf den Honorarlisten von Pharmakonzernen.

Die Zahlen klingen bedrohlich. »Aktuell sind in der Schweiz schätzungsweise 153.000 Menschen an Demenz erkrankt«, teilt Alzheimer Schweiz auf ihrer Webseite mit. Jährlich komme es zu 32.000 Neuerkrankungen. »Das heißt, alle 16 Minuten erkrankt jemand neu an Alzheimer oder einer anderen Demenz«. Und das Problem werde immer größer. »Im Jahr 2050 sind voraussichtlich 315.400 Menschen an Demenz erkrankt.«

Da sorgt eine aktuelle Pressemeldung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) für Hoffnung: »Eine frühe Diagnose kann den Unterschied machen«, heißt es darin. Zwar sei Demenz nicht heilbar. Aber »mit der optimalen medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Versorgung« könne ihr Fortschreiten »verlangsamt« werden.

Den Weg dafür, so scheint es, macht die neue deutsche S3-Leitlinie Demenzen frei. Das Schriftwerk dient als Leitfaden für alle Ärzt:innen, die Menschen mit Demenz behandeln. Es gilt als Kompendium des besten verfügbaren Wissens zum Thema und wird alle paar Jahre an den neuen Stand der Forschung angepasst. Die jüngste Überarbeitung, an der mehrere Organisationen beteiligt waren, erfolgte unter Federführung der DGPPN und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).

Der Psychiater Frank Jessen gerät angesichts einiger Neuerungen der Leitlinie ins Schwärmen: »Bislang musste für die Diagnose Demenz die Selbständigkeit der Menschen deutlich beeinträchtigt sein, was eine echte Frühdiagnostik erschwert.« Jetzt gebe es die Möglichkeit, »die Diagnose bereits in einem früheren Stadium der Erkrankung zu vergeben« und den Betroffenen damit »deutlich früher Behandlungsangebote zu machen«. Jessen ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Köln und hat als Leitlinien-Koordinator der DGPPN den Inhalt der Empfehlungen maßgeblich mitbestimmt.

Frühdiagnose von Demenz ist sehr fragwürdig

Ein Blick in die mehrere hundert Seiten umfassende Leitlinie zeigt, was Jessen und seine Co-Autoren damit meinen: Um als krank klassifiziert zu werden und den Stempel »Alzheimer« aufgedrückt zu bekommen, braucht es künftig weder Gedächtnisstörungen noch Verwirrtheit noch eine echte Demenz. Es genügt, wenn ein Arzt eine »leichte kognitive Störung« diagnostiziert und zum Beispiel bei einer Nervenwasser-Untersuchung »Hinweise« auf sogenannte Biomarker entdeckt.

Dabei steht fest, dass beide Kriterien nicht nur unscharf, sondern auch kein verlässlicher Beleg für das Vorliegen der Alzheimer-Krankheit sind. Das offenbart die Leitlinie selbst. Die Diagnose der leichten kognitiven Störung, ist dort zu lesen, sei »weit gefasst« und beziehe sich auf kognitive Störungen bei verschiedenen, auch vorübergehenden körperlichen Erkrankungen.

Tatsächlich kann eine leichte kognitive Störung durch eine Vielzahl von Ursachen entstehen. Die möglichen Auslöser reichen von Harnwegsinfekten und Depressionen über Nebenwirkungen von Medikamenten und seelischen Stress bis hin zu den Nachwirkungen einer Vollnarkose. Viele dieser Ursachen lassen sich erfolgreich behandeln oder beheben. Um keine falschen Diagnosen zu stellen, müssen Ärzt:innen die Betroffenen daher gründlich auf solche Faktoren hin untersuchen.

Komplett Selbständige werden für dement erklärt

Mehr noch. Neuerdings braucht es offiziell nicht einmal relevante Beeinträchtigungen, um als an Alzheimer erkrankt zu gelten. Laut Empfehlung Nummer 15 können auch Menschen dieses Etikett erhalten, die im Alltag gut allein zurechtkommen und komplett selbständig sind.

Ähnlich fragwürdig sind die Biomarker. In der Pressemeldung behauptet der Neurologe Richard Dodel, Koordinator der Leitlinie für die DGN, dass sich Alzheimer anhand krankhafter Veränderungen von zwei Protein-Arten nachweisen lasse, die für die Alzheimer-Erkrankung »ursächlich« seien: sogenannte Amyloide und Tau-Proteine.

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Doch von klarer Ursache und klarem Nachweis kann keine Rede sein. »Wir wissen seit Langem, dass die Menge der Amyloid-Plaques im Gehirn kaum mit dem Krankheitsbild oder der geistigen Leistung korreliert«, sagt Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universität Mainz. Das spiegelt sich auch in der Leitlinie wider, die die internationale Definition zitiert: Die Alzheimer-Krankheit ist demnach eine Krankheit »mit unbekannter Ätiologie«, also mit unbekannter Ursache.  

Zwei Mediziner, die als Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) an der Überarbeitung der Leitlinie beteiligt waren, haben sich denn auch gegen die von DGPPN und DGN gewünschten Diagnose-Empfehlungen gestellt und ihre Ablehnung in einem Sondervotum zum Ausdruck gebracht. Horst Christian Vollmar, Professor für Allgemeinmedizin an der Ruhr-Universität Bochum, und sein Kollege Thomas Lichte, Emeritus an der Universität Magdeburg, konstatieren darin: Die Diagnose einer Alzheimer-Krankheit könne nicht bereits beim Vorliegen einer leichten kognitiven Störung gestellt werden. Wenn die international gültigen Diagnosekriterien nicht erfüllt sind, liege auch noch keine Alzheimer-Krankheit vor.

Höhere Gewinne für die Pharma

Vollmar und Lichte gehen mit ihrer Kritik sogar noch weiter. »Das jetzige Wording bedeutet eine Ausweitung des Krankheitsbegriffs und stellt somit unseres Erachtens ein ‚Disease Mongering‘ dar.« Darunter versteht man eine gängige Vermarktungsstrategie, die von Arzneimittelherstellern ausgeht, aber nur mit tatkräftiger Unterstützung einflussreicher Mediziner:innen möglich ist: Mit einer geschickten Veränderung von offiziellen Grenzwerten oder Krankheitsdefinitionen dehnt man die Grenzen dessen aus, was von Ärzt:innen und in der Öffentlichkeit als behandlungsbedürftige oder behandelbare Krankheit wahrgenommen wird. So lässt sich der Kreis derjenigen, die das jeweilige Medikament verordnet bekommen sollen, deutlich vergrößern – und der Gewinn des Herstellers maximieren.

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»Natürlich wäre ich heilfroh, wenn wir ein wirksames und sicheres Medikament gegen Demenz hätten«, sagt Vollmar. Aber das sei nun einmal bis heute nicht der Fall. Warum Mediziner wie Jessen und Dodel eine Ausweitung der Alzheimer-Diagnose propagieren, darüber könne man nur spekulieren, so Vollmar. Ein denkbarer Grund sei, dass schon bald eine Gruppe von neuen Medikamenten auf den europäischen Markt kommen könnte. Eines davon ist das Präparat Leqembi, für das in den nächsten Monaten – trotz schwerer Nebenwirkungen und unklarem Nutzen – eine Zulassung für Europa erwartet wird.

»Experten« beziehen Honorare von Pharmakonzernen

Fest steht nur: Gleich mehrere Personen, die an der Erstellung der neuen Empfehlungen beteiligt waren, stehen als Vortragsredner, wissenschaftlicher Beirat oder Leiter von Forschungsprojekten in den Diensten von Arzneimittelfirmen. Das geht aus dem sogenannten Leitlinienreport der neuen S3-Leitlinie Demenzen hervor. Bei Jessen sind dies neben den Leqembi-Herstellern Biogen und Eisai auch Lilly, Roche, MSD, Novo Nordisk. Bei Dodel tauchen neben Biogen auch Kontakte zu Pfizer, Boehringer Ingelheim, Novartis, Axon Neuroscience, GE Healthcare und Roche auf.