Laut der Wissenschaftsjournalistin und Buchautorin Cornelia Stolze stiegen die Tagesdosen für Psychopharmaka In Deutschland innert neun Jahren um 780 Prozent.1
«Im institutionellen Rahmen, beispielsweise in Alten- und Pflegeheimen, erhalten über 70 Prozent der Bewohnenden ein Psychopharmakon, meist ein Neuroleptikum», sagt der Chefarzt der gerontopsychiatrischen Abteilung am LWL-Klinikum in Gütersloh, Dr. Bernd Meißnest gegenüber der Autorin.
Dabei seien die Auswirkungen dieser Präparate bei älteren Menschen «unberechenbar» und die gewünschte therapeutische Wirkung würde oft gar nicht erzielt. Komme hinzu, dass die Betroffenen oft «nicht hinreichend in der Lage sind, Wirkungen und Nebenwirkungen von Neuroleptika zu schildern, so dass die beobachtete Wahrnehmung Dritter für die Gabe und Dosierung entscheidend ist», schreibt der Facharzt in einer seinen 11 Thesen für einen Expertendialog der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (DGSP) 2009.
Neuroleptika, die der Behandlung von Psychosen vorbehalten und für den Einsatz in der Demenzbehandlung nicht zugelassen sind, würden häufig gar nicht vom Facharzt verordnet, so der Experte, sondern «oftmals auf Drängen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Institution durch den Hausarzt verschrieben».
Im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit können Neuroleptika auch zur Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz eingesetzt werden.
Herausforderndes Verhalten, im Fachjargon gerne als «Stören von Abläufen» bezeichnet, sei häufig Ausdruck von Verzweiflung, Angst und Unsicherheit, sagt Professor. Dr. Albert Diefenbacher, Chefarzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Berliner Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge.
Dagegen könne man mit einfachen pflegerischen Interventionen, einer entsprechenden Grundhaltung und guter Beobachtungsgabe Verhaltensauffälligkeiten positiv beeinflussen, so der Mediziner weiter.
Neuroleptika – ein Rezept gegen erhöhten Betreuungsaufwand, ökonomischen Druck und Personalnotstand?
Viele vorgehaltene, charakteristische Alzheimer-Symptome, so Stolze, können in Wirklichkeit die Folge von behandelbaren Grunderkrankungen, wie Leberfunktionsstörungen oder einer Schilddrüsenunterfunktion sein oder geben Hinweis auf eine Mangelsituation: Mangelernährung, Dehydrierung, schlecht behandelter Diabetes, soziale Vereinsamung. Heute kenne man rund 50 Erkrankungen, die demenzähnliche Symptome hervorrufen können, so Stolze.
«Die Betroffenen sind auf die Fürsprache Dritter angewiesen, die mit den Ärzten oder Pflegekräften verhandeln», schreibt Dr. Bernd Meißnest in einer Stellungnahme. Für die praktische Arbeit sei es daher entscheidend, dass unmittelbar dort, wo die betreffende Person lebe, die Mitarbeiter des Alten- und Pflegeheimes oder der ambulante Pflegedienste den «roten Faden» in der Hand behielten.