Morgens 4 Stück, mittags 3, abends 6: Dass Senioren jeden Tag viele Pillen nehmen, ist keine Seltenheit und macht zum Teil auch Sinn. Denn ältere Menschen leiden häufiger unter chronischen Krankheiten, die eine dauerhafte Therapie erfordern; zum Beispiel Diabetes, Bluthochdruck, Osteoporose, Herz- oder Nierenschwäche. In Deutschland nehmen 41 von 100 Menschen über 65 Jahre täglich fünf oder mehr Medikamente ein, in Pflegeeinrichtungen sind es gar 90 Prozent. Wir haben den Altersmediziner Professor Jürgen Bauer gefragt welche Arzneien ältere Menschen getrost aus der Pillenbox werfen können und auf welche sie nicht verzichten sollten.
alzheimer.ch: Herr Professor Bauer, welche Medikamente benötigen ältere Menschen nicht?
Jürgen Bauer: Wir Ärzte müssen uns leider eingestehen: Wir wissen nicht immer genau, welche Medikamente man im Alter braucht und welche nicht. Betagte Kranke und Menschen mit Demenz werden oft von Studien ausgeschlossen. Die Pharmaindustrie interessiert sich offenbar wenig für diese Altersgruppe, weil Studien mit diesen Patienten schwieriger durchzuführen sind und dies mit finanziellen Einbussen einhergehen könnte. Zum Beispiel könnte in einer solchen Studie herauskommen, dass Senioren von bestimmten Medikamenten weniger profitieren als jüngere Menschen – als Folge könnte die Pharmafirma weniger davon verkaufen.
Es gab immerhin zwei grosse Studien zu Blutdruckhochdruck1, in denen auch ältere Menschen eingeschlossen waren. Damit wissen Sie doch besser, wer welche Medikamente gegen Bluthochdruck braucht?
Leider sorgen diese Studien auch für Verunsicherung. Es kam heraus, dass man den Blutdruck stärker senken sollte als bisher vorgegeben, also nicht mehr auf unter 140/90, sondern auf unter 130/80.
Was ist das Problem dabei?
Ein fitter Senior kann davon profitieren, weil das sein Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall senkt. Einem solchen Patienten würde ich mehr Blutdruckmedikamente geben, um das Ziel zu erreichen. Anders bei einem gebrechlichen Patienten. Bei ihm kann die Blutdrucksenkung Schwindel auslösen und er stürzt oder seine sowieso schon schwachen Nieren werden nicht mehr gut durchblutet und arbeiten noch schlechter. Man kann nicht einfach alle Senioren über einen Kamm scheren.
Machen Sie uns doch bitte ein Beispiel.
Nehmen wir einen 84-Jährigen, der so gebrechlich und kränklich ist, dass er vermutlich nur noch kurze Zeit zu leben hat. Der Hausarzt hat ihm aber neu ein Osteoporose-Medikament verschrieben, das ihn vor Knochenabbau und Brüchen schützen soll. Der Mann braucht diese Medizin nicht zu nehmen. Selbst wenn die Knochen langsam weiter abbauen, dauert es Jahre, bis das Medikament davor schützt. Ähnlich bei einem neu angesetzten Cholesterinsenker. Der hemmt zwar die Entstehung von Arteriosklerose und verringert damit das Risiko von Herzinfarkt und Schlaganfall. Auch in diesem Fall dauert es aber mehrere Jahre, bis der schützende Effekt sichtbar wird. Der alte Mann wird davon höchstwahrscheinlich nicht mehr profitieren können.
Wie ist die Lage, wenn jemand schon einmal einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlebt hat?
In einer solchen Situation ist ein Cholesterinsenker auch dann sinnvoll, wenn man nur noch wenige Jahre zu leben hat. Denn hier ist es gut bewiesen, dass das Medikament einen weiteren Herzinfarkt oder einen Schlaganfall verhindern kann.
Und wenn der Senior noch rüstig ist?
Dann könnte er von Osteoporose-Medikamenten und Cholesterinsenkern profitieren. Es ist aber nicht immer einfach, auf einen Blick zu sagen, wie fit jemand ist. Es kommt nicht nur darauf an, wie viel Kraft jemand hat, sondern zum Beispiel auch, wie gut seine Hirnfunktion ist.
Wir Altersmediziner bestimmen das anhand eines umfangreichen geriatrischen Assessments. Dabei fällt mir oft auf, dass die Senioren nicht gut essen. Dann schaue ich mir die Liste ihrer Medikamenten nochmals ganz genau durch und prüfe, was nicht gebraucht wird. Appetitlosigkeit als Nebenwirkung kommt bei zahlreichen Medikamenten vor.
Gibt es Medikamente, die man bedenkenlos aus der Pillenbox werfen kann?
Ja, sehr viele Präparate, die man ohne Rezept in der Apotheke kaufen kann, wie Vitamine, Spurenelemente oder irgendwelche Kräuter. Ernährt man sich ausgewogen, braucht man das nicht.
Aber man hört doch immer wieder, dass alle ältere Leute Vitamin D nehmen sollen?
Richtig, Vitamin D empfehle auch ich vielen Senioren. Unser Körper stellt das Vitamin D zwar selbst her, aber um es zu aktivieren, brauchen wir Sonnenlicht auf der Haut. Senioren – und übrigens auch einige jüngere Menschen – sind aber nicht so oft draussen. Das kann vor allem im Winter ein Problem werden. Hinzu kommt, dass die Vitamin D-Produktion in der Haut bei älteren Menschen nachlässt. Deshalb rate ich, 800 bis 1000 Einheiten pro Tag zu nehmen, weil wir wissen, dass die meisten Senioren einen Mangel haben. Ein weiteres Problem ist Vitamin B12.