Obwohl Neuroleptika nicht auf Dauer verabreicht werden dürfen, erhält fast jeder zweite deutsche Heimbewohner dauerhaft mindestens ein Neuroleptikum1. Unter den Heimbewohnern mit einer Demenz sollen es 40 Prozent sein. Dies, obwohl sie ein zusätzliches Gesundheitsrisiko darstellen und für die Behandlung von bestimmten Erkrankungen, wie die einer Demenz, nur sehr begrenzt zugelassen sind.
(Nach Angaben des Heimverbandes CURAVIVA sind für die Schweiz keine Zahlen bekannt. Auch gebe es keine Hinweise auf einen vergleichbaren Trend zu mehr Psychopharmaka-Einsatz in der Schweiz.)
Dies belegt eine vom deutschen Gesundheitsministerium in Auftrag gegebene, aktuelle Studie.2 Dabei ist die therapeutische Wirksamkeit solcher Medikamente bei herausforderndem Verhalten äusserst umstritten. Schaut man jedoch auf die Nebenwirkungen, reduzieren Neuroleptika die willkürliche Bewegungsfreiheit und die Fähigkeit, sich anderen mitzuteilen, spürbar bis deutlich.
Die verbreitete Praxis der Neuroleptika-Gabe gelangt damit in einen beträchtlichen ethischen wie juristischen Graubereich, der in grossem Stil Raum für missbräuchliche Ruhigstellung zulässt. Dabei existieren alternative Konzepte.
Sogenannte «herausfordernde Verhaltensweisen» treten bei etwa jeder zweiten Person mit Demenz auf. Dazu gehören im besonderen Fall übersteigerte Psychomotorik, sexuelle Enthemmung, lautes, dauerndes Schreien oder körperlich-aggressives Verhalten.
Nach deutschem Recht sind nur bei einer erheblichen Gefährdungslage für die Sicherheit des Betroffenen und/oder sein Umfeld Fixierungsmassnahmen gerichtlich genehmigungsfähig. Nichts anderes gilt für «chemische Fixierungen» mit Hilfe von Medikamenten.
Lernvideo – Rufen und Schreien
Was ist zu tun, wenn er plötzlich anfängt rumzuschreien? demenzjournal/Marcus May
Wirkten Medikamente in ihrer therapeutischen Wirkung zum Beispiel nur sedierend, ohne sonstigen Nutzen für den Betroffenen, und schränkten diese eine gegebene, vom Betroffenen aktiv genutzte Mobilität ein, so liege eine freiheitsentziehende Massnahme, konkret eine chemische Fixierung vor, so Hubert Klein, Kölner Jurist mit Schwerpunkt Betreuungs- und Medizinrecht, im Interview. Im deutschen Betreuungsrecht und im Psychiatrierecht habe zudem stets der Nutzen für den Betroffenen zu überwiegen.
In Fällen von Enthemmung, Apathie, gesteigerter Psychomotorik, Angstsymptomen oder Aggressivität zeigten Psychopharmaka keine therapeutische Wirksamkeit, so Prof. Dr. med. Frank Jessen, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Köln.3
Im Gegenteil verschlechtern Neuroleptika etwa zusätzlich die Steuerungs-, Konzentrations- und Orientierungsfähigkeit und motorische Beweglichkeit, erhöhen das Sturz- und Schlaganfallrisiko durch Herzarrhythmien und fördern typisch demenzielle Symptome wie Inkontinenz und Agitation.4
Ein «nur» gesteigerter Bewegungsdrang oder ein «nur» lautes Rufen in der Nacht sind keine Rechtfertigungsgründe für eine «Zwangsbehandlung».
«Medikamentengabe ohne therapeutischen Sinn ist und bleibt eine Körperverletzung und auch ihre Nebenwirkungen werden zusätzlich strafrechtlich relevant», sagt der Jurist – vorausgesetzt, es stellt jemand Strafanzeige.
Ursprünglich werden «Neuroleptika […] als Medikamente zur Behandlung von krankhaften Wahnvorstellungen, sogenannten Psychosen, entwickelt und geprüft», sagt die Expertin für klinische Pharmakologie Prof. Petra Thürmann in der Pressekonferenz zur Vorstellung des Pflegereports 2017 in Berlin.
«Nur sehr wenige Wirkstoffe sind für die Behandlung von Wahnvorstellungen bei Demenz zugelassen und auch dann nur für eine kurze Therapiedauer von etwa sechs Wochen»
Laut Jurist Klein ist eine medikamentöse Antwort auf herausforderndes Verhalten,
- ohne dass zuvor alle Alternativen ausgeschöpft worden seien und das herausfordernde Verhalten therapeutisch nicht anders behoben werden könne,
- ohne therapeutische Indikation,
- ohne «erhebliche Gefährdungslage» für die Sicherheit und Gesundheit des Betroffenen und andere,
- ohne eine wirksame Einwilligungserklärung und
- ohne betreuungsgerichtlichen Beschluss
durch das freiheitsentziehende Potential eine rechtswidrige Scheinlösung, und bei «nur» herausfordernden Verhaltensweisen nicht gerichtlich genehmigungsfähig.
Eine gut gemeinte Absicht spiele dabei keine Rolle – jederzeit sei mit Klagen auf Schmerzensgeld und/oder Strafanzeigen zu rechnen: Denn pharmakologische Interventionen können
- durch den Eingriff in den Stoffwechsel und damit in die körperliche Unversehrtheit eine Körperverletzung (§ 223 StGB, 823 BGB)6
- oder durch den Eingriff in die Bewegungsfreiheit und ihr Potenzial zum Freiheitsentzug (chemische Fixierung) eine Freiheitsberaubung (§ 239 StGB, 823 BGB) sein.
Dass hinter der Vergabe von Neuroleptika nicht notwendigerweise eine medizinisch gebotene Therapie oder erhebliche Gefährdungslage stehen muss, sondern auch deutliche Systemmängel wie «chronische Personal-Unterdeckung» verborgen liegen können, zeigt ein Vergleich mit Schweden.
Dort dürften Heimbewohner keinen anderen Behandlungsbedarf aufweisen als anderswo in Europa. Dennoch erhalten hier nur zwölf Prozent der Menschen mit Demenz ein Neuroleptikum.
Für Johanna Knüppel, Sprecherin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DbfK) sind die neuen Zahlen des Pflegereports nicht weiter überraschend. Da qualifiziertes Fachpersonal und ausreichend Zeit fehlten, bliebe die Umsetzung nicht-medikamentöser Ansätze oft auf der Strecke.