Das Bakterium Porphyromonas gingivalis löst Parodontitis und andere Mundinfektionen aus – und steht im Verdacht, für Alzheimer verantwortlich zu sein.
Bild PD
Hunderte Milliarden Euro wurden in der Alzheimer-Forschung auf einem Irrweg verschwendet. Nun erhärtet sich eine bislang wenig beachtete These zur Ursache der Demenz und macht Hoffnung auf die ersten wirksamen Medikamente.
Von Nike Heinen und Veronika Szenpétery-Kessler, Technology Review In Australien ist es schon acht Uhr abends. Trotzdem ruft Stephen Robinson gleich zurück – endlich hört ihm jemand zu. Er wird eine Stunde lang erzählen und beginnt: «Es tut mir leid für all diese Familien. Und natürlich die Toten.» Es geht um eine Krankheit: Alzheimer. Und es geht um Forscher, die nach seiner Überzeugung Widersprüche systematisch ignorierten und wissenschaftliche Argumente blockierten.
Robinson ist Professor für Psychologie und forschte lange als Neurowissenschaftler an der University of Melbourne an dieser Form der Demenz. Derzeit leiden laut aktuellem Report von Alzheimer’s Disease International – der Vereinigung aller Alzheimer-Fachgesellschaften – etwa 30 Millionen Menschen an der Krankheit.
Im Schnitt sterben sie sieben Jahre nach der Diagnose an dem Verfall ihres Gehirns. Seit Jahren fließen millionenschwere Industrie- und Fördermittelbudgets in die Forschung, trotzdem gibt es bislang nichts, das den Verlauf aufhält.
Im Mittelpunkt der bisherigen Alzheimer-Forschung stehen Beta-Amyloide. Das sind Proteine, die entstehen, wenn ein bestimmtes Protein der Zellmembran zerschnitten wird. Der Stoff ist verdächtig, weil er sich in den sogenannten Plaques befindet – Klumpen aus Amyloid und allerlei Zelltrümmern, die sich zwischen den sterbenden Nervenzellen von Alzheimer-Patienten anhäufen.
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Bisher wurden viele Hundert Milliarden Euro für die Entwicklung von Impfstoffen gegen diese Ablagerungen ausgegeben. Allerdings scheiterten alle bisherigen Studien – und zwar nicht weil, sondern obwohl sie das Peptid wie geplant attackieren.
Trotzdem hält ein großer Teil der Szene an seinen Versuchen fest, Beta-Amyloid zu eliminieren – nur jetzt früher, in dem Krankheitsstadium, bevor Patienten erste Symptome zeigen.
Robinson ist anderer Ansicht, und vielleicht liegt es daran, dass er auch Zoologe ist und einen weiteren Blick hat als seine Kollegen aus der Humanmedizin. Amyloid-ähnliche Peptide sieht er fast überall in der Natur: bei Pflanzen, Quallen und auch bei Wirbeltieren. Nacktmulle produzieren ein Amyloid in besonders hoher Konzentration, das dem für Alzheimer typischen Beta-Amyloid sehr ähnlich ist.
Alzheimer bekommen sie nicht. Aber die Tiere sind bekannt dafür, fast unempfindlich gegenüber Bakterien und Viren zu sein. Das brachte Robinson auf die Spur der Infektion.
Könnte es sein, dass Beta-Amyloide nur ein Symptom waren, aber nicht die eigentliche Ursache?
Dass der menschliche Körper sie bildete, um Krankheitserreger zu bekämpfen – und diese in Wahrheit den Verfall der Nervenzellen herbeiführen? Robinson jedenfalls sieht im Kampf der Alzheimer-Forscher gegen das Beta-Amyloid weit mehr als geldfressende Fehlversuche. Er sieht eine Gefahr für die Patienten.
Denn statt ihnen zu helfen, unterminiert die Impfung die erste Verteidigungslinie des Gehirns gegen Krankheitserreger. Robinson findet sich durch Daten der Alzheimer-Impfstoffstudien bestätigt: Zu den Nebenwirkungen gehörte, dass die Behandelten noch empfindlicher gegenüber Infektionen wurden.
Auch Robert Moir, Neurologe an der Harvard Medical School in Boston, brachte in seinem Labor schon 2010 direkt Infektionen und Alzheimer-Plaques miteinander in Verbindung.
Ihm war die Ähnlichkeit von Beta-Amyloid mit Immun-Peptiden aus menschlichem Blut aufgefallen. Ein Standardtest für Antibiotika zeigte: Beta-Amyloid tötet Bakterien hundertmal stärker ab als Penicillin.
Als Nächstes infizierte Moir transgene Mäuse, die das menschliche Beta-Amyloid in großer Menge bilden, mit Salmonellen. Er spritzte die gefährlichen Bakterien direkt in den Kopf der Tiere. Aber die Mäuse, deren Gehirne nur so vor Beta-Amyloid strotzten, überlebten bis zu 90 Stunden – 20 Stunden länger als normale Mäuse.
Gegen den Amyloid-Mainstream zu forschen erfordert jedoch Langmut: Sein Artikel, der den Zusammenhang belegte, wurde von sechs Fachjournalen ohne eingehende Prüfung abgelehnt.
2016 erschien er dann in «Science Translational Medicine». Die Anwendung seiner Erkenntnisse bei Patienten wird er leider nicht mehr erleben. Robert Moir starb im Dezember 2019.
Das alles würde auch erklären, weshalb das Alzheimer-Risiko mit dem Alter stetig zunimmt, denn ältere Menschen häufen mehr solche unsichtbaren Gäste an. «Lange, nachdem ein Pathogen tot ist, können die Amyloid-Klumpen allerdings noch da sein», sagte Moir. Gleichzeitig wird die Immunabwehr mit dem Alter schwächer.
Vielleicht überfordern die ständigen Attacken das Immunsystem des Gehirns irgendwann. «So könnte als Spätfolge der Infektion eine Kaskade von Entzündungsreaktionen in Gang kommen, wie wir sie bei Alzheimer um die Nervenzellen beobachten.»
Und noch eine weitere Beobachtung stützt die Theorie von der Infektion: Etliche Erreger nutzen den Riechnerv als Eintrittspforte in das Gehirn, und ausgerechnet ihren Geruchssinn verlieren Alzheimer-Patienten häufig als erstes.
Ohne Geruchssinn zerfallen unsere Erinnerungen: Die Passage auf dem Riechnerv endet dort, wo sich der Kern der menschlichen Persönlichkeit befindet.
Im Hippocampus, Verwalter unserer Erinnerungen und alldessen, was wir je gelernt haben. Es ist genau der Bereich, den die Alzheimersche Krankheit zerfrisst.
Forscher wie Robert Moir haben als Ursache von Alzheimer vor allem Erreger in Verdacht, die sich dauerhaft in Nervenzellen oder deren Umgebung einnisten: Beispielsweise die von Zecken übertragenen Borrelien, den Syphilis-Erreger oder das Mundbakterium Porphyromonas gingivalis.
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Auch das Herpes-simplex-Virus, das etwa 90 Prozent der Menschen in ihrem Körpertragen, bringen rund 100 Publikationen mit Alzheimer in Verbindung. Damit gibt es klare Ziele für künftige Therapien – das weckt Interesse bei privaten Investoren.
Auch wenn ihn seine Sichtweise von der öffentlichen Forschungsförderung in den USA ausschloss – Moir konnte trotzdem sechsstellige Geldbeträge für seine Forschung auftreiben. Ein Teil kommt von Patientenorganisationen, ein anderer ist Risikokapital.
«Einige Investoren haben den Cure Alzheimer’s Fund gegründet. Sie sind schon zufrieden, wenn sich nur 50 Prozent ihrer Projekte auszahlen. Sie unterstützen uns.»
Erste Firmen nehmen bereits die chronischen Infektionen ins Visier. Das Start-up Cortexyme aus South San Francisco setzt auf Porphyromonas gingivalis als Hauptschuldigen. Der Keim gilt als wichtigster Auslöser von Parodontitis, seine Abfallprodukte können eine schädliche, den Zahnhalteapparat angreifende Immunreaktion auslösen.
Er fühlt sich allerdings nicht nur in der Mundhöhle wohl. Hinweise darauf lieferten mehrere große epidemiologische Studien, die nach Risikofaktoren für Alzheimer suchten.
Die Cortexyme-Gründer Casey Lynch und Stephen Dominy fanden mit Partnern von der Auckland Brain Bank auch Hinweise auf den Keim «in über 90 Prozent der Gehirnproben verstorbener und in der Rückenmarkflüssigkeit lebender Alzheimer-Patienten».
Wie er aus den Zahnfleischtaschen der Mundhöhle ins Gehirn gelangt, ist noch nicht geklärt. Möglicherweise reist er im Inneren von Fresszellen, die freien Zugang zum Gehirn haben. Einmal dort angekommen, zerkleinert er unter anderem das für die Funktion der Neuronen wichtige Tau-Protein, um die Fragmente zu verspeisen, vermuten die Cortexyme-Forscher.
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Dabei entstehen sogenannte Tau-Fibrillen. Diese Fibrillen zählen viele Forscher ebenfalls zu den Neuronen-Killern – neben den Amyloid-Plaques. Je größer die Konzentration der zerstörerischen Enzyme im Gehirn war, desto mehr Tau-Fibrillen fanden sich, schrieben Cortexyme-Forscher Ende Januar 2020 im Fachjournal «Science Advances» (DOI: 10.1126/sciadv.aau3333).
Einen weiteren starken Hinweis auf den Parodontitis-Keim als Auslöser von Alzheimer liefert das Unternehmen durch Versuche mit Mäusen, denen der Erreger sechs Wochen lang oral verabreicht wurde.
In den Mäusegehirnen fanden die Forscherspäter hohe Beta-Amyloid-Mengen – und zwar just in jenen Nervenzellen, in denen sich die Bakterien eingenistet hatten. Wenn die Neuronen absterben, ergießen sich die Amyloide in den zwischenzellularen Raum und bilden die Plaques, die Cortexyme für eine Art Narbengewebe hält.
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Nicht jeder Mensch, der den Keim im Mund hat, bekommt automatisch Alzheimer; und nicht jeder Erkrankte hat Parodontitis, betont Geschäftsführerin Lynch. Auch andere Risikofaktoren, wie die genetisch bedingte Anfälligkeit für Alzheimer, spielen eine Rolle. Diese Anfälligkeit ist belegt und unbestritten.
Durch Veränderungen im Bauplan des Proteins ApoE bildet das Gehirn verschiedene Varianten des Eiweißes. Menschen mit der Variation ApoE4 haben ein deutlich erhöhtes Krankheitsrisiko.
Cortexyme vermutet den Schlüssel auch hier in der chronischen Infektion mit dem Parodontitis-Keim. Denn das Bakterium nutze, so Lynch, auf der Nahrungssuche im Gehirn auch ApoE. ApoE4 könne es leichter zerlegen als die anderen, und der Zerfall des Gehirns schreite dadurch schneller voran.
Um Porphyromonas gingivalis zu stoppen, lassen sich nicht einfach klassische Antibiotika entwickeln.
Bisherige Breitbandvarianten scheinen ihm wenig anhaben zu können und haben viele Nebenwirkungen. Also entwickelte Cortexyme eine Substanz, die das Enzym blockiert, das letztlich die Tau-, ApoE und andere wichtige Gehirnproteine zerschneidet: Gingipain.
Bei Mäusen war der Wirkstoff mit dem Kürzel COR388 ein Erfolg. Die Bakterien verhungerten, die Amyloid-Level sanken, die Entzündung ging zurück – und die Neuronen waren vor dem Abbau geschützt.
Auch nach den ersten klinischen Studien an wenigen Menschen, die zunächst nur der Sicherheitsprüfung der Substanz dienen, sind die Forscher optimistisch: Probanden mit ersten Alzheimer-Symptomen zeigten in drei Tests verbesserte kognitive Fähigkeiten – etwa eine 75-jährige Frau, die Illustrationen vor der Behandlung meist einsilbig mit Hauptwörtern wie Stuhl und Couch beschrieb.
Am eindrücklichsten hat es vielleicht die Neurobiologin Ruth Itzhaki von der University of Manchester formuliert: Amyloid sei wie ein Grabstein für die abgestorbenen Nervenzellen, nicht ihr Mörder. Das Protein zu bekämpfen würde Neuronen ebenso wenig nützen, wie das Entfernen von Grabsteinen Tote wiedererwecke.
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Nach nur vier Wochen Therapie formulierte sie wieder vollständige Sätze. Für 2020 plant Cortexyme die nächste klinische Studie: GAIN (Gingi-PAIN inhibitor for treatment of Alzheimer’s disease). Sie soll mindestens 573 Alzheimer-Patienten aus den USA, Frankreich, Spanien, Polen, Großbritannien und den Niederlanden einschließen.
Die Firma Cortexyme hofft, dass die wachsenden Belege für Infektionen als Auslöser und für die wohl missverstandene Rolle der Amyloid-Plaques bald ein großflächiges Umdenken auslösen werden.
Danke an die Redaktion von Technology Review für die Gelegenheit zur Zweitverwertung dieses Beitrags.
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