«Wir müssen den Nutzen sehen» - demenzjournal.com

Dementia Care

«Wir müssen den Nutzen sehen»

Menschen mit Demenz spüren, wenn Pflegende etwas nicht aus Überzeugung machen. Foto Véronique Hoegger

Welche Faktoren tragen dazu bei, dass die Erkenntnisse aus der Forschung in der Pflegepraxis ankommen? Eine Studie zeigt, dass unter anderem die Kultur der Institution eine entscheidende Rolle spielt.

Von Julian Hirt, Melanie Karrer, Laura Adlbrecht und Heidi Zeller

«Es ist wichtig, dass wir direkt miterleben und sehen können, wie eine Intervention wirkt. […] Die Bewohnerin fühlt sich dann besser. Das muss man kommunizieren. Und dadurch ist es meiner Meinung nach einfach, das Team ins Boot zu holen», berichtet eine Heimleiterin.

Erfahrungen wie diese sind wichtig, wenn es darum geht, evidenzbasierte pflegerische Interventionen bei Personen mit Demenz umzusetzen. In der Demenz-Pflege besteht eine Kluft zwischen verfügbarem Forschungswissen und der Anwendung in der Praxis. 

In Studien berichtet nur ein geringer Prozentsatz von Pflegefachpersonen, bei der Betreuung von Personen mit Demenz Forschungswissen umzusetzen. Das ist alarmierend. Denn der Verzicht auf Evidenzbasierung kann eine geringere Pflegequalität zur Folge haben.

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Pflegerische Interventionen bei Personen mit Demenz umfassen mehrere Komponenten, die einander beeinflussen. Dies macht eine Umsetzung besonders komplex. Daher ist es wichtig, Faktoren zu kennen, die den Umsetzungsprozess begünstigen, bzw. erschweren:

Was wirkt förderlich? Welche Hindernisse stehen der Umsetzung entgegen?

Antworten auf diese Fragen können hilfreich sein und als Orientierung für die Pflegepraxis dienen. Vor diesem Hintergrund führten wir im Rahmen einer Studie Interviews mit Pflegeexpert:innen und Heimleitenden aus sechs Langzeitpflegeeinrichtungen in der Schweiz und in Liechtenstein durch.

Wir fragten sie, welche Faktoren aus ihrer Sicht die Umsetzung evidenzbasierter pflegerischer Interventionen für Personen mit Demenz fördern, beziehungsweise erschweren. Im Folgenden berichten wir über die zentralen Ergebnisse.

Eine gemeinsame Haltung

«Wir brauchen gemeinsame Werte, Visionen und Strategien. Es sollte klar sein, dass wir alle für eine gemeinsame Sache arbeiten und jeder eine Rolle hat», meinte eine Heimleiterin. Der Zusammenhalt innerhalb der Institution und eine gemeinsame Haltung tragen laut den Befragten wesentlich dazu bei, dass der Umsetzungsprozess gelingt. Alle Beteiligten sollten ein gemeinsames Ziel vor Augen haben. Die Intervention sollte mit dem Leitbild und den Werten der Institution übereinstimmen.

Das setzt eine klare Strategie voraus. Bestimmte Themen sollten in der Institution Priorität haben: «Es ist besser, sich auf ein Thema zu konzentrieren und zu sagen: Wir führen das jetzt ein. Wir sind bereit, die Ressourcen dafür bereitzustellen. Wir möchten das wirklich in unserem Alltag leben und nachhaltig verfolgen. Und wir werden es evaluieren. 

Langfristig denken – das ist meiner Meinung nach wichtig», betonte ein Heimleiter. Falls es zu viele verschiedene Themen gibt, hat die Intervention nicht die nötige Priorität. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie bereits in einem frühen Stadium nicht mehr genügend Aufmerksamkeit erhält.

Motivation und Enthusiasmus

«Es steht und fällt mit dem Enthusiasmus der Pflegenden – dass sie motiviert sind, es in der Praxis anzuwenden. Das ist sehr anspruchsvoll», meinte eine Pflegeexpertin. Führungspersonen, Pflegende, Bewohnende und Angehörige – alle sollten hinter der Intervention stehen und sie gutheissen können. Engagement und Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem sind zentral. Menschen mit Demenz nehmen es sofort wahr, wenn Pflegende eher zögerlich vorgehen oder skeptisch sind:

Menschen mit Demenz spüren sofort, ob eine Pflegende etwas aus Überzeugung macht oder nicht.

Die Pflegenden sollten davon überzeugt sein, dass sie das Richtige machen. Das trägt dazu bei, dass sich die Person mit Demenz sicher fühlen kann», betonte eine Pflegeexpertin. Unterstützung und Rückhalt durch Führungspersonen haben ebenfalls einen entscheidenden Stellenwert. Um das Projekt realisieren zu können und die notwendigen Ressourcen zu erhalten, ist die Zustimmung der leitenden Personen unabdingbar.

Wie stehen die Personen mit Demenz und ihre Angehörigen zu der Intervention? Ihre Einstellung ist von grosser Bedeutung. Häufig ist es nicht möglich, Personen mit Demenz so zu informieren, dass sie die Intervention vollständig verstehen. Oft sind sie nicht in der Lage, ihre Zustimmung oder Ablehnung klar zum Ausdruck zu bringen. 

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Dann können Angehörige einschätzen, inwieweit eine Intervention mit dem Willen der Person mit Demenz übereinstimmt. Vorbehalte ihrerseits können sich negativ auf die Umsetzung auswirken.

Flexibles Vorgehen

«Der Zustand einer Person mit Demenz verändert sich ständig – manchmal innerhalb von Sekunden. Mehrmals am Tag kann die Stimmung wechseln. Das ist extrem herausfordernd. Den richtigen Moment zu finden, ist schwierig. Man kann nicht sagen: Heute mache ich das und das. Man muss sich immer an die momentane Situation anpassen», gab eine Pflegeexpertin zu bedenken. 

Aus Sicht der Befragten ist es zentral, die Intervention auf die momentanen Bedürfnisse der Person mit Demenz abzustimmen: «Die Person mit Demenz muss für die Intervention bereit sein. […] Deshalb sind Anpassungen besonders wichtig», berichtete eine Pflegeexpertin. Hohe demenzspezifische Kompetenzen der Pflegenden sind somit besonders bedeutsam. Dazu gehört, die aktuelle Situation einschätzen zu können und sich von den Bedürfnissen des Menschen mit Demenz leiten zu lassen.

Der Nutzen muss sichtbar sein

«Erfolgserlebnisse» sind von grosser Bedeutung, um das Team für die Intervention gewinnen zu können. Für die Person mit Demenz sollte sich ein deutlich sichtbarer Nutzen durch die Intervention ergeben. Auch auf die Arbeit der Pflegenden sollte sich die Massnahme positiv und entlastend auswirken. Bestenfalls vereinfacht sich dadurch das pflegerische Handeln oder die Kommunikation mit der Person mit Demenz verbessert sich.

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Komplexe Interventionen mit mehreren Komponenten zeigen jedoch nicht immer einen sofortigen Nutzen. Häufig ist sind mehrere Anläufe nötig: «Wenn es nicht funktioniert, versuchen wir es nochmals. Vielleicht zum zehnten oder elften Mal», meinte eine Pflegeexpertin.

Gemäss den Befragten wirkt es förderlich, wenn der Erfolg einer Intervention bereits durch Studien belegt ist oder in einer anderen Institution positive Erfahrungen bestehen. Das macht die Intervention glaubwürdig und hat einen motivierenden Effekt.

Implementierungsprozess

«Es gibt einen hohen Kommunikationsbedarf in unseren Teams. Wir müssen vorab ankündigen, dass es bald etwas Neues geben wird. Die Ziele müssen wir mit der Teamleitung definieren. Was möchten wir in welchem Zeitraum erreichen? Und dann müssen wir bestimmte Dinge vorbereiten, damit wir strukturiert vorgehen können», schilderte eine Pflegeexpertin. 

Eine detaillierte Planung ist aus Sicht der Befragten wichtig. Im Vorfeld bestimmt das Projektteam die Ziele der Intervention und legt  fest, wann und wie die Zielerreichung evaluiert werden soll. Unzureichende Planung kann zu Enttäuschung und Frustration führen. Mit einem Pilotprojekt zu beginnen, ist laut den Befragten sinnvoll. Eventuelle Schwierigkeiten werden dadurch sehr schnell deutlich.

Wissen und Kompetenzen

«Die Fähigkeit, vernetzt denken zu können, ist wichtig. In dieser Hinsicht sind unsere Pflegenden Gold wert. Sie haben sich kontinuierlich weitergebildet. Viele Dinge sind bedeutend einfacher, weil sie bereits Grundlagenwissen haben», berichtete ein Heimleiter.

Auf bereits bestehendes Wissen und vorhandene Kompetenzen zurückgreifen zu können, wirkt sich vorteilhaft aus.

Weiterbildungen und Refresher-Kursen kommt eine wichtige Bedeutung zu. Teamstabilität und eine geringe Fluktuation spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle. Denn bei hoher Fluktuation besteht die Gefahr von Wissensverlust.

Unsere Untersuchung zeigt, dass die Organisationskultur einen entscheidenden Einfluss hat. Die verantwortlichen Personen können den Umsetzungsprozess aktiv beeinflussen, indem sie folgende Aspekte berücksichtigen:

  • Gemeinsame Werte und der Zusammenhalt der Mitarbeitenden sind wichtige Voraussetzungen.
  • Interventionen müssen auf die Bedürfnisse der Person mit Demenz abgestimmt sein. Dies erfordert ein hohes Mass an Flexibilität, Wissen und Kompetenz von Seiten der Pflegenden. Der Aufbau demenzspezifischer Kompetenzen ist von zentraler Bedeutung.
  • Angehörige einzubeziehen und eine unterstützende Beziehung zu ihnen aufzubauen, sind wichtige Voraussetzungen.
  • Rückhalt durch Führungspersonen und durch die Institution ist wesentlich, um Ressourcen für den Implementierungsprozess sicherzustellen (finanziell, personell und zeitlich).
  • Die Umsetzung sollte strukturiert erfolgen. Alle beteiligten Personen sollten genau informiert sein. Eine klare Strategie ist wichtig, um zu viele Parallelprojekte zu vermeiden.

Die Ergebnisse machen deutlich, dass Hindernisse in Bezug auf die Implementierung nicht bei der Person mit Demenz liegen. Entscheidend sind vielmehr die Rahmenbedingungen vor Ort. Für Langzeitpflegeinstitutionen ist es grundsätzlich schwierig, gut ausgebildetes Personal zu finden. Dadurch kann es weiterhin schwierig bleiben, die Kluft zwischen Forschungswissen und Praxis in der Pflege von Personen mit Demenz zu überbrücken.


Dieser Beitrag erschien im Dezember 2021 in der SBK-Zeitschrift Krankenpflege. Wir bedanken uns bei der Redaktion und den Autor:innen für die Gelegenheit zur Zweitverwertung. Das Literaturverzeichnis ist in der digitalen Ausgabe der SBK-Zeitschrift verfügbar oder erhältlich bei: heidi.zeller(@)ost.ch

Julian Hirt, Melanie Karrer und Laura Aldbrecht sind wissenschaftliche Mitarbeitende im Kompetenzzentrum Demenz der Fachhochschule Ostschweiz (OST). Heidi Zeller ist Professorin und Leiterin des Kompetenzzentrums Demenz.