alzheimer.ch: Herr Grebe, Sie haben in den letzten Jahren die mediale Berichterstattung über Demenz beobachtet und diverse Arbeiten darüber verfasst. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?
Heinrich Grebe: Meine Analysen zeigen: Die mediale Auseinandersetzung mit dem Thema ist vielfältiger geworden. Lange dominierten sehr defizit-orientierte Darstellungen. In solchen Darstellungen wird hervorgehoben, dass Demenzbetroffene zentrale menschliche Fähigkeiten verlieren.
Heinrich Grebe
Heinrich Grebe ist Kulturwissenschafter und Soziologe. Er ist aktuell am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich beschäftigt. Dort forscht er im Projekt «Selbstsorge bei Demenz». Seine Doktorarbeit, welche die mediale, zivilgesellschaftliche und familiäre Auseinandersetzung mit Demenz untersucht, erschien Mitte 2019.
Und es geht um überaus schwere familiäre Belastungen, die eine Demenz zur Folge haben kann. Zudem stehen mitunter die volkswirtschaftlichen Kosten der Demenz im Fokus solcher Berichte.
Überspitzt zusammengefasst lautet die Botschaft solcher Artikel: Demenz zerstört die Betroffenen, Demenz zerstört die Familie – Demenz zerstört sogar ganze Sozial- und Gesundheitssysteme, weil die Pflege teuer ist.
Wie hat sich diese Botschaft verändert?
Seit einigen Jahren lassen sich auch andere Darstellungen finden. Hier kann man von potenzial-orientierten Darstellungen sprechen, es werden neben demenzbedingten Schwierigkeiten folgende Fragen thematisiert:
- Was können die Betroffenen noch, auch in fortgeschrittenen Demenzstadien?
- Welche positiven Erfahrungen bleiben ihnen?
- Inwiefern ist Demenz nicht mit einem radikalen Verlust der Persönlichkeit, mit einem Tod im Leben gleichzusetzen?
Weiter wird gefragt, ob sorgende Angehörige auch Gutes erleben. Es geht etwa um Familien, die zusammenwachsen statt auseinanderbrechen. Stellenweise wird ausserdem argumentiert, dass Demenz gewisse förderliche gesellschaftliche Folgen hat – etwa dort, wo sich Menschen zusammentun, um Demenzbetroffene zu unterstützen.
Potenzial-orientierte Texte thematisieren häufig die Möglichkeiten und Grenzen einer medizinischen Therapie – genau wie defizit-orientierte Berichte auch. Im potenzial-orientierten Kontext wird aber zusätzlich ungleich intensiver diskutiert, was sich mit sozialen Vorgehensweisen und Massnahmen tun lässt:
- Wie kann den Betroffenen auf eine rücksichtsvolle, unterstützende und würdigende Art und Weise begegnet werden?
- Was können gewisse Ansätze der professionellen Pflege erreichen?
- Was kann die Politik, was können die Kommunen leisten, um demenzfreundlicher zu werden?
Ist diese potenzial-orientierte Darstellung der Krankheit Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels?
Die Entwicklung hat meines Erachtens verschiedene Ursachen. Zunächst einmal sind defizit-orientierte Darstellungen nicht einfach falsch oder unangemessen: In den Augen nicht weniger Menschen ist das Leben mit Demenz tatsächlich nichts anderes als schlecht, viele erleben bei einer Demenz vornehmlich Negatives.