In den Naturlandschaften des Zürcher Oberlands – hier ist es das Grossweiherriet bei Rüti – tankt auch Charis Lengen Energie.
Bild Martin Mühlegg
Charis Lengen erforscht die Wirkung von Orten und Landschaften auf den Menschen. Auf einem Spaziergang sprach sie mit alzheimer.ch über Wasser, Bäume, Evolution und Stressabbau.
Charis Lengen schlägt vor, das Interview über die therapeutische Wirkung von Landschaften draussen zu machen, weil wir so besser Abstand halten können – und weil wir dann mitten drin sind im Thema. Wir treffen uns in Rüti.
Es ist Mitte Oktober, über dem Zürcher Oberland liegt Hochnebel. Bald gelangen wir in den Wald. Das in wunderbaren Gelbtönen leuchtende Laub lässt das graue Wetter vergessen. Unser Ziel ist das in einer malerischen Landschaft liegende Grossweiherriet.
alzheimer.ch: Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass uns gewisse Orte und Landschaften gut tun – zum Beispiel dieser Wald mit dem herbstlich gefärbten Laub. Warum haben Sie sich tiefer befasst mit der Wirkung von Landschaften auf den Menschen?
Chris Lengen: Ich machte in meiner Kindheit sieben Umzüge mit. Wahrscheinlich hat mich dies dazu motiviert, intensiver über Orte und Landschaften und deren Wirkung auf uns nachzudenken. Wenn wir über Orte reden, gibt es verschiedene Bedeutungsanteile.
Das eine ist das Physische, das wir wahrnehmen über die Sinne. Über unsere Erfahrungen verarbeiten wir diese Eindrücke. Das andere ist das Leben. Nach meinen Umzügen erlebte ich, wie schwierig es manchmal ist, an einem Ort Wurzeln zu schlagen.
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Über Migration wollen wir später noch reden. Sie sind der Frage nachgegangen, wo sich Menschen gerne aufhalten. Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?
Man kann eine Satellitenkarte anschauen, die in der Nacht aufgenommen worden ist. Dort sieht man, wo es die Menschen hinzieht, weil es da am meisten Licht gibt. Viel Licht gibt es an den Rändern: an Küsten, Waldrändern oder dort, wo man einen Ausblick hat.
Es gibt aber auch unterschiedliche soziokulturelle Phasen, die eine Rolle spielen, wo es die Menschen hinzieht: Während der Industrialisierung hatten die Menschen andere Vorstellungen, Bedürfnisse und Wünsche als heute.
Heute haben wir viel mehr Freiheit in der Wahl des Ortes, an dem wir leben wollen.
Die Menschen bewegen sich aus einem gewissen Impuls an einen Ort. Theorien besagen, dass wir diese Impulse evolutionär mitgenommen haben. Wir können uns auch fragen, wo sich unsere Vorfahren gerne hinbewegt haben. Da gibt es Klöster, antike Tempel, alles Mögliche …
Christliche Bauten wurden ja oft an den gleichen Stellen errichtet, an denen es schon viel früher Kultstätten oder Tempel gegeben hatte…
Genau. Typisch für diese Orte ist: Sie sind sehr oft auf Hügeln (Aussicht, Verteidigungsvorteile), in Mulden (Schutz) oder an Gewässern (Wasser, Nahrung). Darüber hinaus haben die Menschen wohl schon immer nach Orten gesucht, an denen es ihnen wohl war und die ihnen gut tun. Fachleute nennen diese Art von Spürsinn und Gefühl für den Ort da vom «Sense of place».
Meere, Seen, Flüsse, Quellen: Sind die Menschen ans Wasser gegangen, weil es da Nahrung gibt und der Transport auf dem Wasser relativ einfach ist? Oder steckt mehr dahinter?
Wenn man die Savannentheorie anschaut, ist es das Überleben. Der Mensch hatte immer die Tendenz, zum Wasser zu kommen, und einen sicheren Ort zu haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir – psychisch gesehen – Jäger und Sammler geblieben sind. Wir haben die Themen noch in uns, da hat sich nicht sehr viel verändert.
Charis Lengen studierte in Zürich Medizin. Sie absolvierte ein Nachdiplomstudium und Doktorat in Geografie. Neben ihrer klinischen Tätigkeit als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (unter anderem war sie Oberärztin an der Privatklinik Clienia) forscht sie seit über 20 Jahren zum Thema «Place Identities» und der Wirkung von Raum und Orten auf den Menschen. Sie ist Co-Autorin des Buches «Landschaft, Identität und Gesundheit – Zum Konzept der Therapeutischen Landschaften».
Ein Berliner Professor untersuchte vor ein paar Jahren, wo die Menschen im Freien am längsten verweilen. Das Resultat war eindeutig: Wenn die Menschen am Wasser sind oder einen Ausblick auf ein Gewässer haben, bleiben sie viel länger sitzen.
Andere Untersuchungen haben zudem gezeigt: Die Menschen bewegen sich noch lieber ans Wasser als in die grünen Parks. Ich denke, es spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, gerade wenn es um die Wahrnehmung geht. Wasser ist sehr lebendig und abwechslungsreich. Man kann immer wieder an die gleiche Stelle gehen, und es ist immer anders.
Wasser hat auch eine kulturelle Prägung: Die mystische Anschauung von Geburt und Lebensverlauf bezieht sich oft aufs Wasser. Am offenen Ufer herrscht auch ein ganz anderes Raumgefühl als etwa im mehr oder weniger dunklen Wald, der den Menschen über den Wechsel der Jahreszeit hinaus materielle Festigkeit und Schutz bietet.
So verbindet der Wald die Gegensätze von Wandel und Stabilität zu einem überzeitlichen Lebensprinzip. Hier ist es übrigens das Laub, das jetzt gerade goldgelb leuchtet und Symbol für Veränderung sein kann…
Viele Menschen sagen: «Im Wald kann ich am besten zur Ruhe kommen und mich entspannen»…
Es ist ähnlich wie beim Wasser: Vieles hat mit dem Individuum zu tun, mit den Erfahrungen, welche dieses in der Kindheit gemacht hat. Die einen haben das Bedürfnis, in den Wald zu gehen, andere gehen lieber ans Wasser.
Viele meiner Patienten sagen, dass sie sich gerne am Wasser bewegen und die Oberfläche beobachten, dass sie aber darunter aber etwas Unheimliches erahnen.
Das Unheimliche begegnet den Leuten da in seiner nie ganz durchschaubaren Widersprüchlichkeit: Sie sind nicht dort daheim, aber trotzdem zieht es sie da hin.
Auf unserem Spaziergang haben wir die ideale Kombination: Wir gehen durch den Wald ans Wasser!
Genau, vorerst begegnen wir allerdings den Bäumen. Diese können in einem Wesen eine Selbstidentifikation bewirken: Wir können uns mit den Bäumen vergesellschaften…
Es gibt Menschen, die Bäume umarmen.
Sie bauen mit den Bäumen eine Ich-Du-Beziehung auf. Ein grosses Anliegen unseres Buches ist es jedoch, dass wir nicht die Ich-Du-Beziehung in den Mittelpunkt stellen, sondern dass wir auch den Kontext einer Begegnung berücksichtigen. Es kann sein, dass ich Sie nicht mehr kenne, wenn Sie in meine Praxis kommen – weil ich Sie in einem ganz anderen Kontext abgespeichert habe.
Wir kommen zu einer malerischen, leicht abfallenden Waldlichtung. Im unteren Teil ist es sumpfig, gegen oben hin wächst saftiges Gras. Es sieht aus wie im Märchen.
Ich könnte mir vorstellen, dort am oberen Waldrand ein Häuschen zu bauen, in dem ich dann mit meiner Liebsten leben würde. Wir hätten einen Garten, ein paar Tiere – und ein schönes Leben…
Hier sieht man auch oft Rehe. Es ist ein Naturschutzgebiet – die Ränder scheinen wirklich anziehend zu sein. Von diesem Ort aus kann man in die Ferne sehen, aber trotzdem ist er gut geschützt.
Der Wald hält den Rücken frei, er bietet auch Nahrung und Energie…
Das ist auch wieder ein Jäger- und Sammlerthema. Wir erleben immer wieder Wow-Effekte, die auch etwas Besänftigendes haben.
In Italien gibt es viele Dörfer und Städte, die zuoberst auf einem Hügel liegen. Wer genug Geld hat, kauft eine Villa, die zuoberst auf dem Hügel liegt.
Ich glaube, es ist die Aussicht. Die Menschen sagen, dass sie an solchen Orten ein Gefühl der Freiheit haben, dass sie dort richtig frei atmen können. Sie sind nicht eingeengt und können ungestört sinnieren.
«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»
Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat
Man kommt an solchen Orten dem Traum des Fliegens recht nahe…
Fliegen ist ein sehr alter Traum des Menschen. Das ist tief in uns drin.
Hat es auch mit dem Streben nach Macht zu tun, wenn man sein Haus zuoberst auf dem Hügel baut? Im Mittelalter überboten sich die Mächtigen einiger italienischer Städte damit, möglichst hohe Türme zu bauen…
Macht ist in den Beziehungen zwischen Menschen immer ein Thema. Wenn es um Besitztum geht, geht es auch um Macht. Es geht dann weniger darum, dass man auf dem Hügel frei sein will, sondern, dass man diese Position hat.
Es gibt auch Menschen, die gerne in der Wüste sind.
Dort gibt es die grosse Weite. Auch die Kargheit spricht den Menschen an. Im neuen Minimalismus will man sich vom Ballast befreien, von dem wir umgeben sind. In der Wüste gelingt das sehr gut.
Was passiert mit uns, wenn wir den Ort gefunden haben, an dem wir uns wohl fühlen?
Medizinisch gesehen haben wir ein System, das Stresshormone wie Cortisol, Adrenalin usw. ausschüttet. Je nach unseren Lebenserfahrungen werden diese Ausschüttungen in bestimmten Situationen ausgelöst.
An den schönen Orten entsteht ein Spannungsabbau.
Auch dies kann getriggert sein durch verschiedene Momente: Die Sinneseindrücke, die Kühle, die Tiefensensibilität… Das Auftreten der Füsse, das Klopfen – all dies bewirkt, dass wir uns beruhigen und entspannen.
Von einer Anhöhe aus sehen wir nun hinunter auf das Grossweiherriet. Schilf und Gras sind längst geschnitten, die Stoppeln haben sich braun gefärbt. Das Riet liegt in einer Senke, es ist umrahmt von dunklen Tannen und Bäumen mit Blättern in vielen Farbtönen. Wir machen uns auf den Weg hinunter, ein Pfad führt durch die sumpfige Landschaft.
Das ist jetzt das Grossweiherriet. Was macht es mit uns?
Vielleicht belebt es uns durch seine Vielfalt. Ich möchte es mit Erfahrungen beschreiben, die ich mit Menschen mit Demenz machen konnte. Wegen Corona konnte vieles nicht mehr stattfinden. Viele durften kaum mehr raus in die Natur oder andere Menschen treffen.
Das hat bei vielen einen Schub ausgelöst, sie haben durch die fehlende Bewegung und Belebung kognitiv stark abgebaut. Wir brauchen die Erfahrung des Kommens und des Gehens. Wenn das nicht mehr gelebt werden kann, werden Menschen mit Demenz ängstlicher.
Auch wir regen also unsere kognitiven Fähigkeiten mit Spaziergängen wie diesem an…
Wenn wir uns vorwärts bewegen und in etwas hineingehen, regt dies unsere Hirnaktivität an. Viele Forschungen haben gezeigt, dass wir bis ins hohe Alter aufgrund unserer Hirnplastizität kompensieren können, wenn es in einem Hirnbereich nicht mehr so gut läuft. Die Neuronen suchen dann in anderen Regionen Aktivität.
Dazu braucht es Bewegung, und ohne Reize von aussen geht es nicht. Im Notfalldienst begleitete ich neulich einen Mann mit Demenz, der seine Wohnung zwei Jahre lang nicht verlassen hatte. Auf dem Weg in die Klinik redete er über die Dinge, die er sah. Seine Frau sagte mir, dass er schon lange nicht mehr darüber gesprochen habe. Die Bewegung und das Wiedererkennen der Orte haben ihn angeregt.
Wir haben bisher über Landschaften und Natur gesprochen. Warum zieht es die Menschen in die Städte?
Der Wunsch nach gemeinsamem kreativem Schaffen und Erleben mag diese Entwicklung vorangetrieben haben. Neben der Kreativität, die uns fasziniert, gibt es weitere urbane Attraktoren: Arbeit, Geld, Architektur, das gesellschaftlich kulturelle Leben oder paradoxerweise die Anonymität.
Manchmal müssen wir einen Ort oder eine Landschaft verlassen. Als Kind mussten Sie mehrmals umziehen, weil Ihre Eltern das so wollten. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Im Nachhinein betrachtet hat es mich zu vielen Fragen angestiftet. Es ist für mich lebensbestimmend geworden, mir über Orte Gedanken zu machen. Was machen diese Orte mit mir? Wie beeinflussen sie uns? Wer bin ich und was bleibt von mir, wenn sich meine Umgebung ändert?
Ich suchte jeweils nach Methoden, die mir halfen, mich möglichst schnell wieder zu verwurzeln.
Nach einem Umzug ins Engadin kümmerte ich mich vermehrt um den Boden und pflegte Pflanzen. Zudem wollte ich die kulturellen Hintergründe und die Geschichte des neuen Ortes kennenlernen.
Sie wühlten und konnten so Ihre Füsse tiefer in den Boden stellen…
Genau. Ich suchte auch nach Menschen. Ich begann, die romanische Sprache zu lernen. Aber ich lernte auch das schnelle Loslassen.
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