Der grauhaarige Senior sitzt mit dem Gehstock auf einer Parkbank und schaut dem Lebensende entgegen: Diese noch in vielen Köpfen verankerte Vorstellung vom Alter hat schon bald nichts mehr mit der Gegenwart und schon gar nichts mit der Zukunft zu tun. Davon ist Sabina Misoch überzeugt.
Die Professorin an der Fachhochschule OST leitet das interdisziplinäre Kompetenzzentrum Alter und ist Projektleiterin des nationalen Innovationsnetzwerks «Alter(n) in der Gesellschaft», kurz AGE-NT (s. am Ende des Beitrags).
Die Babyboomer-Generation – die zwischen 1946 und 1964 Geborenen – gingen mit einem ganz anderen «Mindset», wie es Sabina Misoch bezeichnet, ins dritte und vierte Lebensalter: «Sie werden das dritte Lebensalter revolutionieren.» Denn sie seien innovationsfreudiger, offener für Neues und für alternative Lebensformen, dynamischer, individualisierter, selbstbewusster und fordernder.
Aber selbstverständlich gelte diese Charakterisierung nicht für alle Menschen dieser Generation, schränkt sie sofort ein. Denn ein weiteres Kennzeichen sei die immer grössere Heterogenität – von topfit bis fragil und multimorbid: «Was sie vereint ist, die Buntheit». Das vierte Alter, in dem die Menschen auf immer mehr Unterstützung angewiesen sind, beginnt individuell sehr unterschiedlich, mehrheitlich ab Mitte 80.
Active Assisted Living
Was jedoch alle Senioren und Seniorinnen verbindet, ist der Wunsch, möglichst lange möglichst autonom und selbstbestimmt zuhause zu leben. Hier setzt ein Baustein des Altersforschungs-Netzwerks ein. Mit Ambient & Active Assisted Living (AAL) sollen Strukturen und Technologien getestet werden, die das eigenständige Leben zuhause unterstützen.
Zwar gebe es bereits heute viele Hilfsmittel, zum Beispiel im Bereich der Sturzprävention, sagt Sabina Misoch. Doch die Ingenieure, die diese Innovationen entwickeln, hätten wenig Kontakt mit der Zielgruppe.
AAL will deshalb «Living Labs» schaffen – ausgewählte Privathaushalte, in denen Senioren diese Innovationen testen. Mittels Befragungen wollen die Forscherinnen dann herausfinden, ob und wie die älteren Menschen die Hilfsmittel benützen, ob sie funktionieren, ob sie damit überfordert sind und was sie ändern würden. Die Idee ist zudem, dass die beteiligten Senioren auch untereinander kommunizieren.
«Ob sich solche Technologien durchsetzen, hängt wesentlich von der Akzeptanz ab», ist die Projektleiterin überzeugt. Systeme, die mit Kameras arbeiten, würden schnell als Überwachung wahrgenommen, nennt sie ein Beispiel.
Aber es gebe auch Technologien, die zum Beispiel die Höhenunterschiede messen und extreme Abweichungen von den normalen Bewegungsmustern registrieren. Sturz-Sensoren können auch stigmatisierend sein, wenn sie gut sichtbar sind. Auch Technik mit schlechtem Design kommt schlecht an.
Neu und zentral beim AAL-Projekt sei, so Sabina Misoch, dass die Senioren und Seniorinnen direkt und partizipativ eingebunden sind:
«Wir wollen nicht über, sondern mit den Senioren forschen.»
Aber für sie ist auch klar: «Technik kann nie direkte menschliche Kontakte und soziale Netzwerke ersetzen.»
Wohnen und Arbeiten
Auch beim Projekt ALiP (Active Living in Place), bei dem die Fachhoschule Nordwestschweiz federführend ist, geht es unter anderem um die Analyse der Wohn- und Lebensbedingungen älterer Menschen, bei welcher auch das Wohnungsumfeld (Siedlung/Quartier/Nachbarschaft) mit einbezogen wird und das in eine Altersbefragung mündet.
Beim Forschungsbereich Demenz will die Fachhochschule OST unter anderem eine Wissenplattform zu «Dementia Care» aufbauen und ein «Future Dementia Care Lab» einrichten. Hier werden zum Beispiel Pflegefachpersonen daraufhin ausgebildet, welche Potenziale technikgestützte Assistenzsysteme für Menschen mit Demenz besitzen.
Im vierten Bereich, dem Projekt «Mozart» (Modelle für den zukünftigen Arbeitsmarkt 45+), untersucht die Fachhochschule Bern, was es braucht, dass die über 45-jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bis zum Pensionsalter im Arbeitsprozess bleiben können und wollen. Wie können aus volkswirtschaftlicher Sicht die Integration in den Arbeitsmarkt und die soziale Absicherung unter einen Hut gebracht werden?
Sozial verträglich
Heute macht der Anteil der über 65- Jährigen rund 18 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. 2050 wird fast ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr im bezahlten Erwerbsleben sein.
«Diese neu zusammengesetzte Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sich auch die andern zwei Drittel damit auseinandersetzen.»
Denn die «neuen Alten» wollen weiterhin in die Gesellschaft eingebunden sein, aktiv bleiben und soziale Anerkennung erhalten. Das würde nur mit einem wertschätzenden Miteinander unter den Generationen gelingen.
«Sozial verträgliche und nachhaltige Lösungen» für die Lebensqualität der Menschen im dritten und vierten Lebensalter zu ermöglichen und sicherzustellen, steht als Grundsatz über dem Forschungsprojekt AGE-NT. Man wolle nicht einfach vier Jahre forschen und dann ist alles vorbei. Sabina Misoch betont: «Wir wollen Einfluss nehmen, nachhaltige Strukturen aufbauen und weiterführen und relevante Entwicklungen anstossen.»