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Japan

Auf den Spuren der Hundertjährigen

«Vereinsamen können die Menschen hier nicht, da der Zusammenhalt im Ort sehr gross ist und jeder für jeden schaut. Nachbarschaftshilfe ist selbstverständlich. Die Betagten sind sehr gut integriert und ein unverzichtbarer Teil der Gemeinschaft.» Bild Sabina Misoch

Sabina Misoch, Professorin an der Fachhochschule St.Gallen, hat auf ihrer Forschungsreise durch Japan das Dorf Ogimi auf der Insel Okinawa besucht. Hier leben weltweit die meisten Hundertjährigen.

Ogimi ist ein kleines Dorf im Norden der südjapanischen Inselgruppe Okinawa. Es ist ein besonderer Ort, denn hier leben ungewöhnlich viele Hochbetagte – und weltweit die meisten Hundertjährigen.

Sabina Misoch ist Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter an der Fachhochschule St.Gallen (FHS). Auf ihrer dreiwöchigen Forschungsreise durch Japan hat sie das Dorf Ogimi aufgesucht.

Von den rund 3300 Bewohnern leben etwa 510 im Dorfteil Shioya, davon sind 41 Personen über 70 Jahre alt, 61 sind 80-jährig und älter, 35 sind über 90 und fünf Personen sind über 100 Jahre alt. Die Altersforscherin hat sich mit einigen dieser Hochaltrigen getroffen, um mehr über das Geheimnis eines langen Lebens zu erfahren.

Die Hundertjährige.Bild Sabina Misoch

«Einmal pro Woche findet am Morgen im Gemeindezentrum ein Health-Check statt», erzählt Sabina Misoch. «Wer älter als 65 ist, kann vorbeikommen, um sich von den Gemeindeschwestern den Blutdruck oder die Temperatur messen zu lassen sowie über medizinische Beschwerden und andere Probleme zu sprechen.»

Fällt ein Wert schlecht aus, wird der Arzt informiert. Der wöchentliche Health Check ist aber mehr als nur eine gesundheitliche Standortbestimmung. In Shioya hat er den Charakter eines gesellschaftlichen Anlasses.

Während zweier Stunden wird geturnt, getanzt und viel geredet, zudem bekommen die Senioren Wissen vermittelt und eine Kindergartengruppe singt ihnen Lieder vor. «Die Gemeinde übernimmt hier viel Verantwortung für ältere Menschen, was ich sehr toll finde», sagt Sabina Misoch.

Im Anschluss an einen solchen Health-Check hatte die Altersforscherin die Gelegenheit, sich mit zwei hochbetagten Frauen – einer 100- und einer 93-Jährigen – zu unterhalten. Das Gespräch wurde von einem Dolmetscher übersetzt, da die beiden Frauen weder japanisch noch englisch sprechen, sondern den lokalen Dialekt von Okinawa.

«Mich interessierte vor allem, wie sie sozial eingebunden sind, woher sie ihre Energie nehmen und was ihr Lebenssinn ist»

Sabina Misoch

Beide Seniorinnen haben einen ähnlichen Tagesrhythmus. Dabei sind vor allem die Arbeiten im Garten und auf dem Feld, das Beten und Sprechen mit den Verstorbenen und das frische, gesunde Essen am Mittag und am Abend sehr wichtig.

Unterschiede gibt es bei den sozialen Kontakten. Während die 100-Jährige ihre Nachmittage oft alleine verbringt, weil ihr Sohn weit weg wohnt und viele ihrer Freunde bereits verstorben sind, hat die 93-Jährige viel Kontakt mit ihrer Familie, da sie 10 Kinder, 23 Enkel- und 24 Urenkelkinder hat.

Die 93-Jährige.Bild Sabina Misoch

Wie gut die beiden Hochbetagten körperlich und psychisch «in Schuss» seien und mit wie viel Energie sie ihr Leben meisterten, habe sie sehr beeindruckt, sagt Misoch «Noch heute kocht die 93-Jährige für die ganze Familie, wenn grosse Feiern stattfinden.»

Sie schöpften Ihre Energie aus dem Kontakt mit den Menschen, dem gemeinsamen Karaokesingen und daraus, für ihre Mitmenschen da zu sein.

«Und viel Kaffee trinken», habe die 100-Jährige gesagt. Wichtig seien ihr die Gespräche mit den Toten, und ihr Garten, wo sie Gemüse und Früchte anbaue. Aber vor allem möchte sie das Leben im Hier und Jetzt geniessen.

«Trotz Armut ist ihnen die Zeit wichtiger als das Geld», sagt Sabina Misoch. «Vereinsamen können die Menschen hier nicht, da der Zusammenhalt im Ort sehr gross ist und jeder für jeden schaut.

Nachbarschaftshilfe ist selbstverständlich. Die Betagten sind sehr gut integriert und ein unverzichtbarer Teil der Gemeinschaft.»

Auf ihrer letztjährigen Japan-Forschungsreise traf sich Sabina Misoch mit dem japanischen Kardiologen und Altersforscher Makoto Suzuki, der vor über 40 Jahren eine Studie über die Hundertjährigen auf der Insel Okinawa lanciert hat. 

Mit seinem Team führt er in regelmässigen Abständen Untersuchungen und Befragungen über deren Gesundheitszustand, Lebensweise und sozialen Umstände durch.

Mittlerweile haben die Forscher Daten von über tausend Hundertjährigen gesammelt und es hat sich gezeigt, dass die Menschen auf der Insel nicht nur lange leben, sondern auch sehr gesund sind.

Es gibt kaum Schlaganfälle, kaum Herzkrankheiten, kaum Fälle von Demenz, wobei letztere zunehmen.

Ein wichtiger Faktor für die Langlebigkeit ist gemäss Makoto Suzuki die Lebensweise dieser Menschen. «Sie werden gebraucht und sehen dadurch einen Sinn in ihrem Leben.» Ausserdem ernährten sie sich gesund, wenig Fleisch und viel Gemüse, bewegten sich viel an der frischen Luft und würden kein Fast-Food essen.

Die bisherige Forschung ist der Ansicht, dass eine Langlebigkeit zu 75 Prozent von der Lebensweise beeinflusst wird. Der japanische Arzt und Altersforscher geht gar einen Schritt weiter und spricht von 90 Prozent. Die restlichen 10 Prozent seien genetisch bedingt.


Sabina Misoch ist Soziologin und Expertin für empirische Forschungsmethoden, Technikakzeptanz, AAL, Identität im Alter, Diversity, Werteforschung und Neue Medien. Sie leitet an der FHS St.Gallen das Interdisziplinäre Kompetenzzentrum Alter IKOA-FHS. Ausserdem ist sie Leiterin des aktuell grössten nationalen Forschungsprojekts «AGE-NT – Alter(n) in der Gesellschaft».

Vielen Dank an Sabina Misoch und Lea Müller für die Gelegenheit zur Zweitverwertung dieses Beitrags, der als Blog zur alternden Gesellschaft → hier erschienen ist.