Von Christina Pletzer und Peter Wissmann

Herbert Sund aus Bremerhaven sucht gemeinsam mit seiner Frau den Arzt auf, der ihm an diesem Tag nach einer Reihe von Untersuchungen die Ergebnisse mitteilen wird. «Es tut mir sehr leid, die Diagnose lautet Demenz», sagt der Arzt. Das Ehepaar ist sichtlich getroffen.

Am Abend geht Herr Sund in den Keller, um sich wie täglich ein Bier zu holen. Unten angekommen hört er die besorgte Stimme seiner Frau. «Herbert, ist alles in Ordnung?», ruft sie die Treppe hinunter. Herr Sund sagt nichts. Am nächsten Morgen verlässt Herr Sund sein Bett und will sich ankleiden. Zu seinem Erstaunen bemerkt er, dass im Bad bereits ein Hemd und eine Hose für ihn bereitliegen. Er runzelt die Stirn.

Die Verkündung der Demenz-Diagnose verändert alles

Monate später, als wir ihn zu einem Gespräch treffen, schießt es aus ihm heraus. Die geschilderten Erlebnisse seien für ihn schrecklich gewesen, berichtet er. Einen Tag zuvor sei er noch ein vollwertiger Mensch gewesen, doch seit Verkündung der Diagnose hätte ihn selbst seine Frau nicht mehr für voll genommen.

Bei seinem üblichen Gang in den Keller hätte sie sich Sorgen gemacht, die sie einen Tag davor noch nicht gehabt hatte. Jeden Tag hätte er sich wie Millionen anderer Menschen auch selbständig angekleidet. Doch ein paar Stunden nach dem Arztbesuch hätte seine Frau wohl vermutet, dass er dazu nicht mehr in der Lage sei und ihm die Kleidung bereitgelegt.

Meine Frau liebt mich und ich liebe sie! Aber mich verletzt ihr Verhalten tief. Ich fühle ihr gegenüber Aggressionen, aber ich äußere sie nicht, weil ich weiß, dass sie es gut meint und ich sie nicht verletzten möchte.
– Herbert Sund

Was Herr Sund schildert, geschieht leider sehr oft. Unbewusst – nicht etwa aus bösem Willen! – hat sich das Bild vom Gegenüber grundlegend verändert. Frau Sund hat, als ihr Mann sich ein Bier holen wollte, nicht etwa gedacht: «Wenn er sich schon sein tägliches Bier holt, dann kann er mir ja auch gleich ein Piccolofläschchen mitbringen.»

Unbewusst ist ihr offensichtlich stattdessen folgender Gedanke in den Kopf geschossen: «Oh Gott, er geht in den Keller! Hoffentlich passiert ihm nichts! Er hat doch eine ‹Demenz›!» Und am folgenden Morgen hat sie ihm gleich noch die Kleidung zurechtgelegt. Er hat doch eine ‹Demenz›!

Diagnose Demenz: Plötzlich gefährdet und nicht zurechnungsfähig

Bemerken Sie, was hier geschieht? Nur weil ein spezielles Wort im Raum steht, wird aus Herrn Sund, beziehungsweise dem Ehemann Herbert, plötzlich eine gefährdete und nicht mehr ganz zurechnungsfähige Person! Glaubt tatsächlich irgendjemand, seit dem Besuch in der Arztpraxis hätte bei ihm ein rapider kognitiver und körperlicher Abbau eingesetzt? Und zwar so, dass er weder gefahrlos in den Keller gehen noch allein die passende Kleidung aus dem Schrank nehmen könnte?

Wohl kaum. Und dennoch handeln andere Menschen, oft auch nahestehende Personen, so, als hätte es innerhalb weniger Stunden diese übernatürliche Verwandlung eines Menschen in einen Betreuungsfall gegeben. Wir nennen dieses Phänomen den Kippschaltereffekt. 

Die Menschen, die von Vergesslichkeit oder anderem betroffen sind, oder die eine Demenzdiagnose bekommen haben, die werden einfach alle in eine Schublade gesteckt. Alle in dieselbe. Und dann sind sie darin und wissen nicht, wie sie da wieder rauskommen sollen.
– Karl Heinz Müller 

Vielleicht verstehen Sie jetzt besser, warum viele Menschen mit Vergesslichkeit & Co. es ablehnen, mit dem Begriff ‹Demenz› in Verbindung gebracht zu werden. Sie wissen nur zu gut, welche fatalen Folgen eine solche Zuordnung auslösen kann. 

«Ich reagiere manchmal ein wenig ungerecht, wenn bei Beni nicht alles klappt. Ich weiß, dass das nicht gut ist, aber es passiert manchmal eben. Sicherlich braucht es jetzt mehr Rücksicht und Verständnis als früher.»
– Rolf Könemann 

Meistens stellt sich automatisch bei nahestehenden Personen das Gefühl ein, sie müssten nun ein besonderes Auge auf den anderen haben und ihn beschützen. Denn ‹Demenz›, so der tief verwurzelte Glaube, beraubt die betroffene Person wichtiger Fähigkeiten. Sie macht sie hilflos oder doch zumindest recht unterstützungsbedürftig. Und damit auch aufsichtsbedürftig! 

Person mit Vergesslichkeit und Co.: Suchen Sie das Gespräch!

  • Nicht die tatsächliche kognitive Einschränkung und auch nicht die von einer Ärztin ausgesprochene Diagnose machen Sie oder eine andere Person urplötzlich zu einem unfähigen ‹Betreuungsfall›! Sie wissen das! Aber vielleicht können das Ihre Zugehörigen in diesem Moment nicht erkennen, weil ein diffuser Begriff wie ‹Demenz› oder ‹Verwirrtheit› Angst bei ihnen ausgelöst hat.
  • Akzeptieren Sie daher nicht, dass Ihnen ein solches Bild übergestülpt wird. Auf keinen Fall sollte es Ihnen darum gehen, reale Beeinträchtigungen zu ignorieren und zu leugnen. Dennoch ist es wichtig, dass sich bei Ihren Zugehörigen nicht Vorstellungen und Verhaltensweisen einschleichen, die irgendwann nicht mehr korrigierbar sein könnten. Denn das hätte ernste Konsequenzen für Ihre Lebensqualität und Ihre Selbstbestimmung.
  • Helfen Sie Ihrer oder Ihren Zugehörigen, die Falle zu erkennen, die sich vor ihnen auftut. Sie verhalten sich nicht bewusst so, wie sie es tun. Doch in ihrem Inneren laufen automatisch die Vorstellungen beziehungsweise Vorurteile ab, die wir alle im Lauf der Jahre in irgendeiner Form erlernt haben.
  • Haben Sie Verständnis für die Sorgen Ihrer Zugehörigen, doch schlucken Sie deshalb nicht die Gefühle und Gedanken einfach herunter, die Sie belasten. Sonst befinden Sie sich eines Tages in einer Situation, aus der nur schwer wieder herauszukommen ist. Herr Sund hat lange Zeit aus Liebe zu seiner Frau geschwiegen. Das Ergebnis: Das sorgenvolle Verhalten der Ehefrau hat sich immer weiter verstärkt und Herr Sund wusste nicht mehr, wohin mit seinen aufgestauten Aggressionen.
  • Suchen Sie von Beginn an das Gespräch. Machen Sie Ihrer oder Ihren Zugehörigen klar, dass Sie ihre Sorge und Fürsorge verstehen können. Sprechen Sie aber auch über die Gefühle, die das in Ihnen auslöst. Sagen Sie sich gegenseitig, wie Sie damit umgehen wollen, und suchen Sie nach Lösungen. 

Zugehörige: Lassen Sie sich nicht von diffusen Begriffen in die Irre führen

  • Nicht die tatsächliche kognitive Einschränkung und auch nicht die von einer Ärztin ausgesprochene Diagnose machen die Ihnen nahestehende Person urplötzlich zu einem unfähigen ‹Betreuungsfall›!
  • Lassen Sie sich nicht von abstrakten und diffusen Begriffen wie ‹Demenz› oder Ähnlichem in die Irre führen. Schauen Sie stattdessen genau auf Ihr Gegenüber: auf seine Veränderungen, aber auch auf seine Stärken. Vermutlich gehören das Bierholen und die Auswahl der Kleidung allemal dazu!
  • Wenn ein betroffener Mensch erlebt, wie sich der Blick der Umwelt auf ihn plötzlich ‹verdüstert›, wird er meist mit Unbehagen oder mit unterschwelligem Zorn reagieren. Leicht kann es zu einer unguten Reaktionsspirale kommen. Gegenseitige Vorwürfe oder ängstliches Verstummen, aufgeregte Verteidigungsversuche oder innerer Rückzug: All das verhindert die Offenheit und das Auseinanderzugehen, auf das es jetzt ankommt. Denken Sie deshalb immer an den Kippschalter und bewahren Sie einen kühlen Kopf.
  • Ihnen wird das hoffentlich gelingen. Andere Menschen in Ihrem Umfeld werden vielleicht ohne böse Absicht den Kippschalter umlegen. Suchen Sie gemeinsam mit der Ihnen nahestehenden Person das Gespräch mit diesen Menschen.
  • Doch zuerst: Suchen Sie das Gespräch mit der betroffenen Person!

Herr Sund hatte eine ‹Demenzdiagnose› erhalten. Die braucht es jedoch nicht, um Kippschaltereffekte hervorzurufen. Dazu reichen auch «einfache» Vergesslichkeit & Co. aus.

Ein Zugehöriger sollte vor allem ehrlich und verständnisvoll sein und zu dem anderen stehen! Auf keinen Fall sollte er so tun, als sei die betroffene Person inkompetent. Denn das ist der größte Fehler. Den anderen wie ein Kind zu behandeln. Es geht um einen gegenseitigen, respektvollen Umgang miteinander.
– Silke Reiß-Naumann 

Aus dem Gespräch wird ein Dialog

Das gemeinsame Gespräch über Ängste, Sorgen, Wünsche und Vorstellungen ist von zentraler Bedeutung für Sie – die betroffene Person und die Zugehörigen. Führen Sie es möglichst bald, nachdem Sie kognitive Veränderungen bemerkt haben – erst recht nach einer ‹Demenzdiagnose›. Das Gespräch miteinander sollte jedoch keine einmalige Angelegenheit bleiben. Bleiben Sie in ständigem offenem Austausch.

Wichtig ist, dass man miteinander spricht. Nicht übereinander, bei anderen Menschen, sondern miteinander! Ich habe Frank klargemacht, dass ich alles, was ich kann, auch selbst machen möchte und er das nicht übernehmen soll. Ich sehe aber auch, dass er oft recht hat, wenn er mir sagt, dass ich dies und das nicht mehr allein hinbekomme. Ich muss das dann selbst ausprobieren, aber wenn ich dann merke, dass es stimmt, akzeptiere ich es auch. Obwohl ich eigentlich ein störrischer Esel bin! Das hat allerdings seine Zeit gedauert. Wir haben uns geschworen, dass wir uns immer alles offen sagen wollen.
– Yasemin Aicher

Da es um ernste und mit vielen Gefühlen verbundene Dinge geht, können im Vorfeld leicht Ängste und Fragen auftauchen: Wie soll das jetzt gehen? Wie fängt man das Gespräch am besten an? Wie wird die andere Person reagieren? Wie kommt man zu einem wirklich offenen Dialog?

> Auf der Website www.demenz-ratgeber.at können Sie das Arbeitsblatt «Vorbereitung auf Gespräche Betroffene – Zugehörige» herunterladen.