Max Sterren (Name von der Redaktion geändert) hatte starke Hände und schwache Beine. Anfangs an den Stock, später an den Rollator geklammert war er langsam, aber fast rastlos unterwegs. Sein Gesicht drückte Verzweiflung und Ratlosigkeit aus. Es zeigte, dass er das, wonach er suchte, noch nicht gefunden hatte, aber dass er es unbedingt suchen musste. Also weiter, zur nächsten Türe, um die Ecke in den nächsten Flur oder in den Aufenthaltsraum. Irgendwo musste es doch sein!
Nie saß er lange an einem Tisch. Kaum hatte er ein paar Happen gegessen oder etwas verschnauft, stand er wieder auf und hinkte weiter. Das Essen, die Pflege, das Anziehen, die Toilette: Das alles war nicht sein Ding. Er musste weg, irgendwo würde er gebraucht werden, scheint Sterren zu denken. Selbst die Nachtruhe war ihm nicht vergönnt. In seiner Demenz (Mischform von Alzheimer und vaskulärer Demenz) wurde die Nacht zum Tag.
Er verirrt sich und wird aggressiv
Eines nachts verirrte sich Max Sterren ins Zimmer einer Mitbewohnerin. Diese erschrak und wollte den ungebetenen Gast aus ihrem Zimmer scheuchen. Sterren seinerseits interpretierte dies als Angriff und würgte die Frau. Die noch sehr rüstige Mitbewohnerin konnte sich befreien und um Hilfe rufen. «Bösartig war Sterren nie – eher energisch», sagt eine Betreuerin. «Er war ein freundlicher und gutmütiger Mensch, der sich aber durch seine Umtriebigkeit immer wieder in Überforderungen manövrierte. Dann konnte er einem auch mit dem erhobenen Stock drohen.»
Ein Ausdruck seiner Freundlichkeit waren Begrüßungsrunden: Stets wollte er seine Mitmenschen mit einem Händedruck «Guten Tag» sagen. Weil er immer wieder vergaß, wen er schon begrüßt hatte, drehte er mehrmals täglich seine Runde durch die Aufenthaltsräume. Dabei stieß er mit seinem Rollator gegen die Beine der anderen und verrückte Stühle und Tische.
Weitere Verhaltensweisen Sterrens sorgten auf der Station für Unruhe: Sterren pfiff sehr oft und lange. Kein musikalisches, melodiöses Pfeifen, sondern ein penetranter, an- und abschwellender Ton, der den Mitbewohnern genauso auf die Nerven ging wie die Begrüßungsrunden. Sterren klopfte mit allerlei Gegenständen auf Tische und andere Möbel. Wenn er wach im Bett lag, klopfte er mit den Knöcheln an die Wand. Stundenlang, wenn man ihm keine Ablenkung anbot.
Er sucht nach Aufgaben, findet sie aber nicht
Was Max Sterren dazu trieb, unterwegs zu sein und Geräusche von sich zu geben, werden wir nie erfahren. Vielleicht suchte er einen Ort, an dem er Ruhe finden könnte. Vielleicht suchte er nach Aufmerksamkeit und Bewunderung anderer Menschen, wie man aus der Biografie interpretieren könnte. Vielleicht wunderte er sich auch darüber, dass er nicht mehr zu Notfällen ins Spital gerufen wurde. Vielleicht war er ja am falschen Ort, und die Menschen, die dringend seine Hilfe brauchten, warteten hinter der nächsten Ecke.
Sterren wuchs als zweiter von vier Söhnen einer angesehenen Familie in Visp (Kanton Wallis) auf. Die Eltern waren weltoffen und sprachgewandt. Sterren absolvierte das Gymnasium in einer Klosterschule und studierte Medizin. Er spezialisierte sich auf Unfallchirurgie, wurde Chefarzt und Professor. Er war Mitglied diverser Gesellschaften, seine Innovationen und Referate stießen in vielen Ländern auf großes Interesse.
1959 heiratete er und wurde Vater von zwei Söhnen und einer Tochter. Sterren arbeitete viel, seine Frau führte den Haushalt. Im Einfamilienhaus der Familie bei Basel waren Verwandte, Berufskollegen und Freunde aus dem In- und Ausland gern gesehene Gäste.
1982 zeitigten Max Sterrens intensiver Lebensrhythmus und die starke Beanspruchung durch den Beruf körperliche Folgen. Er erlitt einen Herzinfarkt. 1991 hatte er eine Bypass-Operation, es folgten zwei Operationen an den Hüften (künstliche Gelenke). Es kam zu Komplikationen, Sterren litt fortan unter schmerzenden Beinen und hinkte.
Er gab die Leitung der Klinik ab und reduzierte sein Arbeitspensum. 2004 wurde eine Verengung des Wirbelkanals diagnostiziert und operiert. Von da an war der einst sportliche Mann sehr eingeschränkt. Für eine weitere Schwächung sorgten eine schwere Infektion und die ein Jahr lang andauernde Einnahme von Antibiotika.
Er kommt schnell ausser Atem und ist sturzgefährdet
Wanderer gibt es viele unter den Menschen mit Demenz. In der Sonnweid haben sie den Raum, ihre Ressourcen auszuleben und ihrem Drang nachzugehen. Die Wege, Flure, Durchgänge und Pfade sind lang und einladend. Die Türen sind offen und laden ein, noch weiter zu gehen. Doch Sterren bot den Betreuenden mehr Herausforderungen als andere Wanderer.
Er war nicht gut auf den Beinen, kam schnell außer Atem und stürzte oft. Doch Wille und Vorwärtsdrang waren so stark, dass es ihn immer weitertrieb. Wenn es dann doch nicht mehr weiterging, verzweifelte er und reagierte manchmal mit Aggression, die sich weniger gegen seine Mitmenschen als gegen sich selbst richtete.
Manche Besucher und Angehörige wunderten sich über den Mann, der immer gehen wollte und nicht mehr richtig konnte. Bei seinen Stürzen erlitt Max Sterren manche Prellung und Verstauchung. Auf Wunsch der Angehörigen wurde an Sterrens Bett ein Gitter angebracht. Dieses versuchte er aber stets zu überklettern – und geriet dabei in ähnlich gefährliche Situationen, wie wenn er auf den Beinen war.
Auf die verordnete Bettruhe reagierte er mit Herumwälzen, Drehen – und mit noch stärkeren Klopfgeräuschen.
Versuche mit beruhigenden Medikamenten brachten nicht den gewünschten Erfolg: Diese mussten so hoch dosiert werden, dass er die Tage und Nächte im Dämmerzustand verbrachte. Die Ethikgruppe befasste sich immer wieder mit dem Fall – und kam zum Schluss, dass man den Mann nicht zu stark mit medikamentösen und physischen Maßnahmen einschränken sollte.
Eine Betreuerin: «Unsere Erfahrungen zeigten, dass er nur in der 1:1-Begegnung mit anderen Menschen etwas Ruhe fand. Da er Katholik war und als Gesunder regelmäßig in die Kirche gegangen war, betete ich mit ihm manchmal das Vaterunser oder sang Kirchenlieder. Darauf reagierte er sehr gut. Manchmal drückte er dabei ganz fest meine Hand.»
Lernvideo: Validation wirkt gut auf unruhige Menschen
Die Pflegenden verlegten sein Bett ins Wohnzimmer, damit er nachts die Mitbewohner nicht zu sehr störte, und damit jemand in der Nähe war und ihn wenn nötig beruhigen konnte. Positiv reagierte Sterren auch auf Fußreflexzonenmassagen. Freude hatte er an Begegnungen mit einer Betreuerin, die wie er den unverwechselbaren Oberwalliser-Dialekt sprach.
Er braucht Pflege in Etappen und viel Sonne
Die Betreuenden sorgten dafür, dass Max Sterren dank Spaziergängen im Garten reichlich mit natürlichem Tageslicht versorgt wurde, damit er in der Nacht zur Ruhe kam. Begleitete Spaziergänge und 1:1-Begegnungen blieben die einzigen Aktivierungen, die ihm halfen, seine Rastlosigkeit zu überwinden.
«Wenn jemand neu auf die Station kommt, probieren wir verschiedene Angebote aus», sagt eine Betreuerin. «Doch er sprach auf nichts an. Zeitungen, Spiele, Musik, Bilder – das alles interessierte ihn nicht.» Weil Sterren auch auf die Pflege negativ reagiert habe, sei sie in kleinere Etappen aufgeteilt worden. Die Körperpflege habe man zunehmend ins Bett verlagert, weil er sie dort eher erduldet habe. Auch habe man immer um seine Schmerzen (vor allem im Rücken und den Beinen) gewusst und ihm die nötigen Medikamente gegeben.
Vielleicht konnte Max Sterren gegen das Ende seines Lebens hin nicht erkennen oder akzeptieren, dass der Tod der Ausweg aus seiner Unruhe sein konnte. Während seines Aufenthaltes in der Sonnweid schien ihm mehrmals die Lebensenergie vollends auszugehen.
Die Berteuerin: «Er lag dann ein paar Tage im Bett, und wir dachten, dass der Tod nicht mehr weit sein konnte. Er war sehr mager und schwach geworden. Doch irgendwie erholte er sich und fing wieder an, aufzustehen und herumzugehen – und sich zu überfordern.» Nach etwas mehr als einem Jahr in der Sonnweid habe sich Sterrens Zustand erneut verschlechtert. «Ich hatte das Gefühl, dass er dann zuließ, dass er nicht mehr gehen konnte. Dass er nicht mehr pfeifen konnte, zeigte ebenfalls seine nachlassende Energie an.»
Die Betreuenden und die Angehörigen sorgten in dieser Zeit für ein schönes Umfeld.
Sie richteten ein Tischchen mit Blumen an seinem Bett, ab und zu wurde Musik gespielt. Seine Angehörigen waren oft an seinem Bett. Sein Mund wurde mit einem Wasserspray befeuchtet, dann und wann wurde er umgelagert. Wichtig ist in dieser Zeit, dass der Sterbende auch den Raum und die Ruhe hat, um seinen Weg zu gehen.