Enthemmung bei Demenz verstehen und sicher begleiten
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Fallbeispiel Heinz Schneider

Enthemmung: Der Gentleman wird zum Sonderling

heinz Schneider Fallbeispiel Enthemmung

Heinz Schneider lacht viel – in seiner Welt ist er mit allen Menschen verbunden. Bild Adobe Stock

Eine Demenz hat Heinz Schneiders Persönlichkeit verändert. Mit seinem ungewöhnlichen Verhalten verunsichert und überfordert er seine Mitmenschen, allen voran seine Frau Lilo. Im Fallbeispiel erfährst du, was eine situative Desorientierung ist und wie du darauf reagieren kannst.

FAQ 1: Was ist situative Desorientierung bei Demenz?

Situative Desorientierung bedeutet, dass Menschen soziale Regeln und Grenzen nicht mehr richtig einschätzen können. Nähe und Distanz verschwimmen, Impulse werden ungefiltert ausgelebt. Das Verhalten wirkt enthemmt oder peinlich, hat aber nichts mit Absicht zu tun – es ist Ausdruck der Krankheit, nicht des Charakters.


FAQ 2: Wie gehe ich mit enthemmtem Verhalten in der Öffentlichkeit um?

Bleib ruhig, schütze die Würde des Betroffenen und lenke liebevoll um. Zurechtweisungen machen die Situation meist schlimmer. Oft hilft ein freundlicher Satz, ein Ortswechsel oder Humor. Informiere Menschen im Umfeld über die Krankheit – wer versteht, reagiert gelassener. Und: Du musst dich nicht entschuldigen für etwas, das Krankheit ist.


FAQ 3: Wie kann ich meinen Angehörigen sicher begleiten?

Plane Aktivitäten so, dass sie überschaubar bleiben und genügend Pausen zulassen. Rituale geben Halt, klare Anleitungen Orientierung. In heiklen Situationen: Reize reduzieren, raus aus dem Stressmoment, Sicherheit vor Tempo. Hol dir unbedingt fachliche Unterstützung, wenn das Verhalten gefährlich wird oder dich überfordert. Niemand schafft das allein.


Heinz Schneider * (68) interessiert sich für Menschen und geht gerne auf sie zu. Neulich begegnete er im Supermarkt einer älteren Dame: »Grüss dich, wir kennen uns… Weißt du, mein Ball ist jetzt hohl, meine Töpfe sind kaputt.« Letzte Woche besuchte Heinz mit seiner Lilo ein Bergrestaurant und ging schnurstracks zum grossen Tisch, an dem sich die Skilehrer versammelt hatten. »Guten Tag, ich war auch mal Skilehrer – das ist supersuper, dass ihr jetzt alle – das ist supersuper!«

Die Skilehrer schauten ihn konfus an, und Heinz rang nach den Worten, die ihm wie so oft nicht mehr einfielen. Schliesslich brach er in schrilles Gelächter aus. Wenige Tage später sagte er im Bus einem Teenager, seiner Frau seien die Autoschlüssel in eine Höhle gefallen, deshalb fahre er jetzt mit der Seilbahn. Anschliessend stieg er aus und urinierte an der Station in einen Abfalleimer.

Lilo zieht ihn aus dem Verkehr

Lilo ist über 40 Jahre lang mit Heinz’ durchs Leben gegangen. Wir können uns vorstellen, wie sehr sie unter seinem Verhalten leidet. Aufgewühlt von Scham, Wut und Überforderung absolviert sie die schwierigen Situationen meist nach dem gleichen Muster: Sie geht dazwischen, manchmal stößt sie Heinz zur Seite und zischt »lass sie in Ruhe« oder »wir kennen diese Leute nicht, was fällt dir ein!«. Wenn sie Heinz aus dem Verkehr gezogen hat, erklärt sie, dass es ihr leidtue, aber man könne halt nichts machen, ihr Mann habe früher noch gewusst, was sich gehöre. Worte wie »Demenz« oder »Alzheimer« spricht sie in solchen Situationen nicht oder erst auf Nachfrage der anderen aus.

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Man nennt Heinz’ Verhalten »situative Desorientierung«. Es ist verbunden mit einer starken Veränderung der Persönlichkeit. Lilo, die immer Wert auf Etikette und Anstand gelegt hat, schämt sich sehr für Heinz’ enthemmtes und in unseren Augen unangebrachtes Verhalten. Besonders starken Schmerz empfindet sie, wenn Heinz sie offenbar nicht mehr erkennt. Neulich sagte er zu ihr: »Du bist eine so gute Frau! Warum hast du eigentlich keinen Mann?«

Vor acht Jahren, als er noch gesund war, feierte das Ehepaar Schneider mit über 100 Gästen Heinz’ 60. Geburtstag. Damals arbeitete er als leitender Ingenieur beim Konzern, der seinen Hauptsitz in ihrem Wohnort hat. Heinz reiste geschäftlich um die Welt. Wenn er von einer Reise in die USA oder nach Australien zurückgekehrt war, hingen die Freunde im Männerchor und im Segelclub an seinen Lippen. Er erzählte von Casinos in Las Vegas, von Mammutbäumen an der Pazifikküste, von den Essgewohnheiten der Asiaten und den Giftschlangen Australiens. Ebenso interessant waren seine Ausführungen zu den riesigen Spritzguss-Maschinen, die er an diesen Orten eingerichtet hatte.

Indizien für die Erkrankung hatte es schon früher gegeben. Heinz verlegte schon einige Jahre zunehmend Dinge, suchte öfter nach Schlüsseln, Brillen und Bankkarten, regte sich darüber auf und bezeichnete sich selbst »Vollidiot« und »Dummkopf«.


Vier Jahre nach seiner Pensionierung ist Heinz noch immer ein freundlicher Mensch, aber kein Gentleman mehr. Er ist zum Sonderling geworden, der mit seinem Verhalten bei seinen Mitmenschen Kopfschütteln und Verunsicherung auslöst. Heinz übertreibt ungehemmt und dekoriert seine Biografie mit erfundenen Heldentaten: Er war Schweizer Fussballmeister mit dem FC Zürich und Skilehrer in St. Moritz, er bestieg die höchsten Berge und durchschwamm mehrmals den Zürichsee in seiner ganzen Länge.

»Die Peer-to-Peer-Videos der demenzworld sind äußerst wertvoll. Ich verwende sie in meinem Demenz-Modul, da sie die Perspektive von Menschen mit Demenz veranschaulichen und ein differenzierteres Bild vermitteln.«

Prof. Dr. Anne Roll, Hochschule Bochum

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In seiner Welt ist er mit allen Menschen verbunden. Egal, ob Strassenwischer, Verkäuferin, Kellner, Friseurin, Lehrer, Touristin, zufälliger Passant oder Chauffeur: Alle sind seine Freunde und müssen angesprochen werden. Eigentlich ist es absurd, dass diese überbordende Freundlichkeit abschreckend wirkt. Nicht umsonst nennt man Demenz auch die Krankheit des Umfeldes.

Was eine situative Desorientierung bedeutet

Menschen mit einer situativen Desorientierung halten sich nicht mehr an die Normen und Regeln unserer Kultur. Sie reagieren impulsiv und unangemessen. Sie machen verletzende und anzügliche Bemerkungen. Sie haben im Umgang mit ihren Mitmenschen kaum mehr ein Gefühl für Nähe und Distanz. Damit lösen sie bei ihren Angehörigen und Betreuenden oft Scham aus.

Einige Beispiele situativer Desorientierung. Heinz Schneider…

  • duzt unbekannte
  • erzählt fremden Menschen Intimes aus seinem Leben
  • spricht laut während eines Konzertes oder eines Gottesdienstes
  • fordert lauthals das bestellte Getränk, er mag nicht darauf warten
  • hat veränderte Tischmanieren, isst mit den Händen, schmatzt, spricht mit vollem Mund
  • nimmt im Laden Obst und verspeist es, ohne zu zahlen
  • geht ohne auf den Verkehr zu achten über die Strasse
  • uriniert in der Öffentlichkeit
  • bohrt in der Nase
  • spottet über Menschen mit einer unvorteilhaften Figur oder Behinderung
  • kleidet sich nicht dem Anlass oder der Jahreszeit entsprechend

Heinz war ein treuer Ehemann und ein verständnisvoller Vater – oft auf Berufsreisen zwar, aber wenn er da war, war er da. Arbeitskollegen schätzten den fleissigen, patenten und freundlichen Ingenieur. Auch auf dem Rennrad und dem Segelschiff machte er eine gute Figur. Er war ein nützlicher Zeitgenosse – als Heimwerker, Vorstandsmitglied, Unterschriftensammler oder Verwaltungsrat.

Wenn es etwas an Heinz auszusetzen gab, war es, dass er sich nicht genug einsetzte für seine eigenen Interessen. So hörte er im Lauf seines Lebens öfter den Satz: »Das darfst du dir nicht gefallen lassen!« Nachdem er die Diagnose erhalten hatte, hiess es dann und wann, dass eben Alzheimer entstehen könne, wenn man die eigenen Bedürfnisse vernachlässige. Diese zweifelhafte Erkenntnis aus der Küchentisch-Medizin war ebenso fehl am Platz wie andere Schuldzuweisungen.

demenzwiki

Begleitsymptome

Neben Vergesslichkeit treten bei einer Demenz andere Beschwerden auf. Dazu gehören auch psychische Störungen wie Angst, Depression oder Aggression. weiterlesen

Bis heute gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, wie Alzheimer entsteht. Es gibt Risikofaktoren, die man senken kann. Aber auch der seriöseste Lebenswandel gibt keine Gewissheit, nicht daran zu erkranken. Dafür ist Heinz das beste Beispiel: Er hat zeitlebens mehrmals wöchentlich Sport getrieben, hat sich massvoll und abwechslungsreich ernährt. Er hat nie geraucht und wenig Alkohol getrunken. Er ist spirituell, optimistisch und unternehmungslustig gewesen. Kurz: Er hat so gelebt, wie es sich Präventivmediziner wünschen. Trotzdem erhielt er mit 66 die Diagnose Alzheimer. Nach und nach zeigten sich neben der Vergesslichkeit auch Veränderungen in seinem Verhalten.

Neun Regeln zum Umgang mit situativer Desorientierung

Menschen mit Demenz verabschieden sich nach und nach von sozialen Regeln. Hemmungen fallen, Nähe und Distanz verschwimmen. Wichtig ist: Würde wahren, nicht die Person zurückweisen – nur das Verhalten. Viele Angehörige fühlen Scham. Doch Heinz hat sich früher an alle Regeln gehalten. Jetzt braucht er Orientierung, Schutz und Verständnis.

1. Reagiere gelassen und mit Humor. Humor entspannt. Lache mit Heinz, nicht über ihn. Erinnere dich daran, dass er früher Situationen richtig einschätzen konnte. Im privaten Umfeld kannst du veränderte Regeln leichter hinnehmen.

2. Lass dich auf Heinz’ Realität ein. Diskutiere nicht über Regeln. Mach es ihm einfach und verstärke Unsicherheiten nicht. Geh mit gutem Beispiel voran, lass ihn nachahmen. Lass ihn so lange wie möglich selbstständig herausgehen – das gibt euch beiden Luft.

3. Plane gut und geht zusammen raus. Öffentlichkeit bleibt wichtig. Überlasse anderen ihre Reaktionen; Eingreifen verunsichert Heinz nur. Wähle ruhige Zeiten, Orte mit Raum und Ausweichmöglichkeiten. Informiere im Umfeld über die Krankheit – Verständnis hilft.

4. Rituale geben Halt. Routinen beruhigen. Halte den Tag möglichst stabil. Bei Pflege oder Haushalt: viel Zeit lassen, kleine Schritte, Pausen. Wellness statt Hektik. Plane Termine zu seiner besten Tageszeit und verbinde sie mit etwas Angenehmem.

5. Reduziere Situationen auf kleine Schritte. Fordere nicht zu viel. Sage klar, was er tun soll, unterstütze mit Gestik. Lass ihn mithelfen und korrigiere kleine Fehler unauffällig. Lenke ab, wenn er sich verrennt oder verärgert wirkt.

6. Sei positiv und eindeutig. Formuliere, was er tun soll – nicht, was er lassen soll. Lange Erklärungen verwirren. Klare, ruhige Sätze helfen am meisten. Gib ihm Zeit, zu reagieren.

7. Wähle Aktivitäten bewusst und nutze Angebote. Manche sozialen Situationen sind schwierig. Wähle Anlässe mit Menschen, die Verständnis haben. Nutze Angebote wie Tanznachmittage, Ausflüge, Gottesdienste oder Ferien für Menschen mit Demenz. Kleine Info-Kärtchen können peinliche Momente entschärfen.

8. Sei offen – Verstecken macht es schwerer. Informiere euer Umfeld über Heinz’ Krankheit. So reagieren Menschen gelassener, wenn sein Verhalten ungewöhnlich ist. Triff Absprachen mit Geschäften, ÖV oder Restaurants. Lege Kontakte und ein Foto von Heinz ab. Bei Orientierungsschwierigkeiten hilft ein GPS-Gerät.

9. Hole dir fachliche Unterstützung. Lass Heinz’ Fähigkeiten regelmässig einschätzen. Fachpersonen erkennen Belastungen, Symptome und Möglichkeiten zur Unterstützung. Sprich Unsicherheiten offen an. Niemand muss diese Aufgabe ohne Hilfe bewältigen.

> Hier geht es zum E-Learning Enthemmung und situative Desorientierung

* Alle Namen sind von der Redaktion geändert