Tagsüber malt Kurt Richter (Name von der Redaktion geändert) Mandalas oder raucht. Abends sieht er fern oder raucht. Weil er drinnen nicht rauchen darf, pendelt er im Halbstundentakt zwischen Arbeitstisch und Balkon, Fernseher und Balkon. Einmal täglich holt er aus der Cafeteria Kartoffel-Chips oder Salzstangen. 

Das alles ist ihm sehr wichtig. So wichtig, dass er keine Störungen duldet. «Meine lieben Damen und Herren, wie geht es Ihnen?», sagt er manchmal, wenn er den Aufenthaltsraum durchquert. Eine Antwort wartet er nicht ab, die freundlichen Worte sagt er mit merkwürdig verzerrter Stimme. 

Wehe, wenn ihm etwas in die Quere kommt

Wie sehr es in ihm brodelt, zeigt sich, wenn seiner Routine etwas in die Quere kommt. Zum Beispiel eine Bewohnerin, die vor der Balkontüre steht. Oder eine Betreuerin, die etwas länger braucht, bis sie ihm einen Kaffee hinstellt. Dann bricht ein Schwall von wüsten und verletzenden Wörtern aus ihm heraus. In diesen Momenten wirkt Richter wie der Bösewicht in einem B-Movie: Die Augen sind zusammengekniffen, die Worte kommen kehlig zischend aus dem kaum geöffneten Mund.

Ein Mann sieht rot, steht kurz vor dem Amoklauf. Soll er doch seine Marlboros, Farbstifte und Chips bekommen, könnte man jetzt sagen. Wenn alle Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, ist seine Welt in Ordnung und auf der Station herrscht Ruhe.

Doch Kurt Richter braucht Pflege, und die kann er nicht ausstehen. Auch sonst stört er mit seiner Wut den Frieden auf der Abteilung. Wehe, wenn jemand vor der Schublade mit seinen Mandalas steht! Wehe den Betreuenden, die ihn waschen möchten! Und wehe der Betreuerin, die seine Schuhe nicht sekundenschnell schnüren kann! Schliesslich hat Richter Wichtigeres zu tun, als solchen «saudummen Mist» zu erdulden. Er will auf den Balkon, er will eine Marlboro! Aber subito!

«Manchmal ist er kaum zu ertragen»

«Bei aller Wertschätzung für kranke Menschen: Manchmal ist es kaum zu ertragen», sagt eine Betreuerin. «Es sind nicht nur die schlimmen Worte, die mich treffen, sondern die Art, wie er sie sagt. Selbst wenn er nette Sachen sagt, spürt man seine Wut. Das macht es manchmal schwierig, die professionelle Distanz zu wahren.» Oft würden die Worte am Feierabend oder an den Freitagen nachhallen, sagt sie. Manche Situationen seien wie schreckliche Filmszenen: Sie verfolgen einen bis in die Träume.


Verständnis haben für erkrankte, vom Schicksal geprüfte Menschen: Wer Kurt Richters Akte liest, wird es leichter fallen. Mitte der 1950er-Jahre kam er auf die Welt. Als er vier war, verliess die trinkende Mutter die Familie. Der strenge und beruflich erfolglose Vater heiratete wieder, die Stiefmutter fand keinen Zugang zum sensiblen Buben. Trotzdem schaffte Richter den Einstieg in ein «normales» Leben.

Er lernte Schneider und ging Bergsteigen. Er spielte Handball, musste aber seine Karriere nach mehreren Knieverletzungen abbrechen. Von da an kümmerte er sich als Trainer um den Nachwuchs. Er eröffnete ein Atelier für Schneiderarbeiten, heiratete und bekam zwei Kinder.

Doch Unheil braute sich zusammen: Es kam zu Streit in der Familie. Richter sah zu, wie sein Bruder in den Bergen tödlich verunglückte. Das Geschäft lief schlecht, das Leben glitt Richter aus den Händen. Schliessung des Ateliers, Anstellung als Handlanger, Scheidung, Arbeitslosigkeit. Mit 35 befand sich Richter im freien Fall und hielt sich dabei an der Schnapsflasche fest. Er wurde zum Sozialfall.


«Weil die Begegnungen mit ihm meist sehr belastend sind, muss man sich immer wieder zu positiven Kontakten motivieren», sagt eine Betreuerin. «Eine gute Möglichkeit dazu bieten die Mandalas. Bevor er ein neues auswählt, blättern wir zusammen im Ordner mit den Vorlagen. Wir unterhalten uns über die Formen und die Art, wie er sie ausmalen wird. Und wir sprechen über seinen Beruf. Herr Richter hat schöne Kleider entworfen.» In solchen Situationen zeige sich, dass Richter ein interessanter und hochsensibler Mensch ist.

Über «seine» Berge lässt sich einfach plaudern

Die Kenntnis der Biografie eröffnet den Betreuenden positiven Zugang zu Kurt Richter. Während er auf dem Balkon raucht, lässt es sich mit ihm gut über die Berge plaudern. Die Glarner und Innerschweizer Berge, die von der Sonnweid aus zu sehen sind, hat er fast alle bestiegen. Gerne benennt er sie und erklärt, welche Routen auf die Gipfel führen: Auf das Vrenelisgärtli über den Schwandergrat, auf den Tödi über die gefährliche Westwand oder mit Skiern über den Bifertenfirn.

Mit den Handballern ist er viel in der Region herumgekommen. Zu jedem Ort weiss er etwas zu erzählen: «Ah, Bäretswil! Dort gibts die Turnhalle Letten, da kommst du hin, wenn du beim Restaurant Linde von der Hauptstrasse abbiegst. In der Linde machten sie früher ein gutes Cordon Bleu.»

Kurt Richter schaut gerne Sportsendungen. Die Betreuenden informieren sich über anstehende Spiele, Ski- oder Velorennen. Richter spricht auch gerne über Sport – über Pistenzustände, Konterfussball oder körperbetontes Eishockey. Manchmal ist es seine Schwester, die ihn anruft und auf spezielle Übertragungen aufmerksam macht. Sie ist die einzige Angehörige, die den Kontakt zu ihm pflegt. Ihre Besuche geniesst er, sie verschaffen ihm jene seltenen Momente, in denen er gerne auf der Welt zu sein scheint.


Als Kurt Richter 40 war, wurden seine Abstürze heftiger. Nachbarn riefen die Polizei, weil er randalierte und Menschen beschimpfte. Manchmal sorgte er in Restaurants für Radau oder brach auf der Strasse zusammen. Mehrmals wurde er in Spitäler und psychiatrische Kliniken eingeliefert. Dreimal erlitt er bei Stürzen ein Schädel-Hirn-Trauma.

Richter erkrankte an Korsakow-Demenz, Epilepsie und Herzinsuffizienz. Er hat schwere Hüft- und Kniearthrosen, leidet an einer Depression und ist Diabetiker. 2005 wurde er einmal mehr in die Psychiatrie eingeliefert. Seine Wohnung war ähnlich verwahrlost wie er selbst, eine Rückkehr war ausgeschlossen. Seine Schwester brachte ihn in die Sonnweid.


In den ersten Jahren besuchte er zweiwöchentlich das Malen im betriebseigenen Atelier. Dort malte er detailbesessen Berge. Aus seiner Erinnerung rekonstruiert er Grate, die er begangen hatte. Mit den Betrachtern seiner Bilder diskutierte er über die Herausforderungen und Gefahren der Routen: «Da musst du aufpassen, da sind die Steine lose. Und hier ist ein Überhang.»

Weil er die anderen Malenden störte, immer öfter Rauchpausen einlegen wollte und wegen seiner Arthrosen nicht mehr lange stehen konnte, verzichtet er seit drei Jahren auf diese Malstunden.

Körperhaltung und Wortwahl der Betreuenden sind wichtig

Kurt Richters Wut richtet sich vor allem gegen Frauen. Er scheint es zu geniessen, wenn das Opfer seiner Attacken Schwäche zeigt. Die Betreuenden sollen zwar Hindernisse aus dem Weg räumen. Manchmal lohnt es sich aber, Widerstand zu leisten.

Die Gefahr von körperlichen Übergriffen ist bei ihm gering, seine Gewalt ist von wenigen Ausnahmen abgesehen verbaler Natur. Die Körperhaltung und die Wortwahl der Betreuenden spielen eine wichtige Rolle. Ein «starkes Hinstehen», mit Selbstvertrauen und geradem Rücken, Hände in die Hüften, Ellenbogen anwinkeln: «Herr Richter, kommen sie, wir haben Wichtigeres zu tun als mit diesen Leuten zu reden, gehen wir!»

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Quelle Youtube

Ablenkung bieten: ein neues Mandala auswählen, rauchen und die Föhnstimmung in den Bergen anschauen, gemeinsam einen Spaziergang unternehmen zum Chips-Automaten… Damit Kurt Richter ungestört Mandalas ausmalen kann, haben ihm die Betreuenden einen Arbeitstisch in der Ecke eines Aufenthaltsraumes eingerichtet. Er hat eine Schublade, in der er seine Utensilien verstauen kann. Mit der Abgabe von Zigaretten haben die Betreuenden verschiedene Versuche unternommen.

Wenn man ihm ein ganzes Päckchen gibt, hat er es in Kürze aufgebraucht. Also hat man mit ihm vereinbart, dass er halbstündlich eine Zigarette abholen kann. Richter hat eine gute zeitliche und räumliche Orientierung und hält sich mehr oder weniger an diese Abmachung.

Kurt Richter geht früh zu Bett und steht auch recht früh auf. Oft steuert er vom Bett direkt seinen Arbeitsplatz oder den Balkon an. Die Betreuenden warten einen guten Zeitpunkt ab, um ihn zu waschen und anzuziehen. Wenn er in besonders schlechter Stimmung ist, reduzieren sie die Körperpflege auf ein Minimum.

Zum Duschen lässt er sich eher motivieren, wenn man ihm einen Stuhl unter die Dusche stellt und versichert, dass es schnell erledigt sei. Während der Pflege lässt er sich mit Gesprächen einigermassen bei Laune halten. Bewohner wie Kurt Richter sind für die Betreuenden herausfordernd. Es gilt, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, ihn in Gespräche zu verwickeln und die richtige Mischung von Empathie und Widerstand zu finden.

Illustration Massimo Milano