«Das sind ja alles Verrückte hier, was mache ich hier?», waren die ersten Worte, die Heike Bessel (Name von der Redaktion geändert) in der Station A5 der Sonnweid aussprach. In ihren Armen hatte sie zwei Teddybären, die sie «Pusselchen» nannte. Dann lief sie weinend weg. Die Betreuenden fanden sie in jener Wohngruppe, in der sie vorher sechs Monate lang gelebt hatte.
Diesen «Fluchtweg» nahm sie immer wieder unter die Füsse. Vor ihrem Wechsel in die neue Abteilung war sie jeweils aus der Wohngruppe in eine andere Abteilung geflüchtet. Die Betreuenden erkannten, dass es schwer sein würde, Frau Bessel ein Gefühl von Geborgenheit zu geben. Frau Bessel schien weder Bewohner noch Betreuende zu mögen.
«Für sie waren wir ihre Feinde», erinnert sich eine Betreuerin. «Ich erinnere mich an die erste Begegnung: Ich hörte, wie sie Hochdeutsch sprach. Ich sprach sie an, doch sie antwortete: ‹Hauen Sie ab, Sie sind auch nicht besser als die anderen›. Ich sagte ihr: ‹Ich gehe ja schon› und setzte mich ein paar Meter von ihr entfernt hin.
Nach zehn Minuten kam sie und redete mit mir. Ich hatte dann auch keine Probleme mehr, sie zu pflegen oder zu duschen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir Landsleute sind.» Der am Anfang vorhandene Widerstand wurde kleiner. Weitere Betreuende fanden den Zugang zu Heike Bessel. Heute sucht sie gezielt den Kontakt zu den Betreuenden.
Menschen mit Demenz sind ihr zu ungepflegt
Sie geniesst es, wenn sie während der Pausen der Mitarbeitenden mit ihnen in der Cafeteria sein kann. Zu den Mitbewohnern bleibt Frau Bessel auf Distanz. Es scheint unter ihrer Würde zu sein, mit «schwachköpfigen Irren» zu reden. Menschen mit Demenz sind ihr zu chaotisch und zu ungepflegt. Im Unterschied zu den meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Sonnweid legt Heike Bessel grossen Wert auf ihre Erscheinung. Die Frisur muss akkurat sein, der Scheitel gerade. Kein Haar darf abstehen, die Kleidung muss dezent-klassisch sein. Dies, ihre gebückte Haltung, ihr schlurfender Gang und die Teddybären sind zu ihren Markenzeichen geworden.
Heike Bessel hat eine Lewy-Körper-Demenz, eine Depression, Arthrose und Vitamin B12-Mangel. Zu ihrem Krankheitsbild gehören unter anderem rastloses Herumlaufen, Getriebensein und Fehlwahrnehmungen. Bessel sucht irgendwo das Glück, kann es aber nicht finden. Sie ist oft traurig und weint viel.
«Es könnte mit Entwurzelung und Einsamkeit zu tun haben», vermutet eine Betreuerin. «Manchmal sagt sie: ‹Horchen sie mal, wie merkwürdig die reden› und zeigt dann auf die Bewohner. Sie sagt manchmal, dass es schwierig sei, im Ausland zu leben.»
Besonders schwierig ist es in der Fremde, wenn man fast niemanden hat – und wenn die Angst vor Verlusten und dem Alleinsein in der Kindheit stets präsent war. Als Adolf Hitler 1933 Reichskanzler wurde, war Heike Bessel zwei Jahre alt und lebte mit ihren Eltern in Frankfurt an der Oder. 1942 bekam die Familie eine zweite Tochter. Der Vater arbeitete als Ingenieur in einem Industriebetrieb.
Wohnung ausgebombt, bange Nächte im Luftschutzkeller
Während der Bombardierungen durch die Alliierten verbrachte die Familie bange Nächte in Kellern. Ihre Wohnung wurde ausgebombt, während des Einmarschs der Russen lebten sie in Notunterkünften. Nach Kriegsende sprach sich herum, dass es sich unter der amerikanischen Besatzung im Westen besser lebte als in Ostdeutschland, das von Russland besetzt worden war. 1948 zog der Vater nach Dortmund, wo seine Eltern lebten. Wenige Monate später folgte die Mutter mit den beiden Töchtern.
In diesen schwierigen Jahren eignete sich Heike Bessel viel Wissen an. Stundenlang habe sie Bücher gelesen und Fremdsprachen gelernt, berichtet ihre Schwester. Nachdem der Vater Ende der 1940er Jahre im Schwarzwald eine Arbeit gefunden hatte, machte Frau Bessel in Heidelberg das Übersetzerexamen in Spanisch. Sie fand eine Stelle bei der spanischen Botschaft in Bonn. 1962 zog die Familie in die Schweiz, ein Jahr später fand Frau Bessel Arbeit in einer Maschinenfabrik.
30 Jahre lang fand sie in dieser Arbeit und in einer Freundschaft mit einer Arbeitskollegin Erfüllung. Die beiden bereisten viele Länder, und Heike Bessel dokumentierte dies gekonnt mit der Fotokamera. Ihr grosser Traum, nach der Pensionierung in Thailand oder in Bali zu leben, ging nicht in Erfüllung. Die Freundschaft zur Arbeitskollegin zerbrach, die Eltern waren längst verstorben.
Weil ihre Schwester und deren Ex-Mann die einzigen Menschen waren, zu denen sie noch Kontakt hatte, zog sie 2001 nach Wetzikon, wo die beiden lebten. Trotzdem zog sich Heike Bessel immer mehr zurück und entwickelte eigenwillige Verhaltensformen. Sie sass den ganzen Tag vor dem Fernseher und nahm sich für nichts anderes Zeit. Sie fühlte sich zunehmend bedroht und verliess das Haus nicht mehr. Frau Bessel ernährte sich kaum, verwahrloste und wurde krank.
Wegen eines Harnweginfekts wurde sie im Herbst 2009 ins Spital eingeliefert. Nach der Heilung ihres Leidens wurde sie in eine psychiatrische Klinik verlegt. In der Abteilung, in der sie ein paar Wochen lang lebte, wurde umgebaut. Den Baulärm ertrug sie schlecht. Das Meisseln, Bohren und die metallischen Geräusche erinnerten sie möglicherweise an den Krieg und lösten Trauer, Angst, Verzweiflung und Ohnmacht aus.
Nicht gern allein, aber viele Leute verträgt sie nicht
Heike Bessel wollte nur noch weg von diesem Ort. Kurz vor Weihnachten 2009 kam sie in die Sonnweid. Allein will sie nicht sein, aber zu viele Leute dürfen auch nicht um sie herum sein. Im grossen Aufenthaltsraum oder im Eingangsbereich fürchtet sie sich. Sie mag nicht im Zweierzimmer schlafen, weil sie ihre Mitbewohnerin für «verrückt» hält. Meist schläft sie deshalb im kleinen Aufenthaltsraum. Aber auch dort fühlt sie sich nicht wirklich wohl: Oft ist sie auch nachts auf den Beinen. Und wenn sie um sechs erwacht und niemand da ist, weint sie bittere Tränen.
Wie man bei Menschen mit Demenz Wohlgefühle fördern kann, zeigt dieses Video:
Eine Betreuerin: «Frau Bessel ist sehr unglücklich. Oft sagt sie, dass sie sterben möchte. Sie möchte weg, weiss aber nicht wohin. Ich glaube, sie ist völlig verloren, seit sie ihre Freundin verloren hat. Sie hat sich in der Schweiz nie integriert und kennt hier niemanden. Anscheinend war sie aber auch nie in der Lage, Nähe zuzulassen. Der Krieg und die Jahre des Wiederaufbaus haben sie geprägt. Für Nähe, Liebe oder Zärtlichkeit gab es damals keinen Platz.
Ich glaube, Frau Bessel ist unglaublich einsam. Sie sehnt sich nach Nähe, ist aber nicht in der Lage, diese herzustellen.» Hierzu fehlt ihr auch das Grundvertrauen in die Mitmenschen. Im Krieg und in den Jahren danach musste sich jeder selbst zurechtfinden.
Der Wille zum Überleben trieb die Menschen dazu, andere zu übervorteilen und zu bestehlen. Die Verbrechen der Nazis und der einmarschierenden Russen haben bei Menschen wie Heike Bessel tiefe Spuren hinterlassen. «Wer ist das? Was will der? Nimm dich vor dem in Acht!», sagt sie, wenn sie Menschen begegnet, die sie nicht kennt.
Bewegung und Sprache als Ressource
Etwas tun gegen die Einsamkeit, Kontakte herstellen, positive Erlebnisse ermöglichen: Bei Heike Bessel ist dies kaum möglich. Sie mag nicht teilnehmen an Aktivitäten in der Gruppe. Wenn eine Betreuerin, die sie gut mag, eine Aktivität leitet, schaut sie vielleicht ein paar Minuten lang zu. Dann sucht sie wieder nach etwas, das sie nicht finden kann. Die beiden stärksten Ressourcen, die ihr geblieben sind, sind das Gehen und das Kommunizieren.
Die Kenntnis ihrer Biografie schafft bei den Betreuenden Verständnis für das hinweisende Verhalten von Heike Bessel. Doch eine eigentliche Biografiearbeit ist kaum möglich: Frau Bessel reagiert nicht auf Gegenstände und Bilder von «damals». Ihre Teddys sind austauschbar, und auch sonst kümmert sie sich nicht um ihren Besitz.
Spaziergänge und validierende Gespräche über ihr Befinden tun ihr gut. Oft kommuniziert sie über ihre Teddybären. Betreuerin: «Wie geht es den Pusselchen?» Frau Bessel: «Pusselchen sind traurig heute.» Betreuerin: «Sie fühlen sich einsam?» Frau Bessel: «Sie wollen nach Hause.» Betreuerin: «Es ist nicht einfach, wenn man niemanden kennt.» Frau Bessel: «Das ist traurig.»
Sie holt sich ihre Zuwendung
Damit ihre Mobilität und die Freiheit des Weggehens trotz ihrer schweren Arthrose erhalten bleiben, bekommt sie Schmerzmittel. Von den alltäglichen Verrichtungen könnte Heike Bessel einige selbst übernehmen. Sie könnte selbst essen, sich an- und ausziehen und einiges mehr. Frau Bessel überlässt dies aber lieber den Betreuenden. «Weil sie dann Zuwendung bekommt», vermutet eine Betreuerin. Manchmal beklage sie sich über die Qualität des Essens und schiebe den Teller von sich. Wenn man ihr das gleiche Essen eingibt, geniesst sie es sehr.
Die Betreuenden tun ihr derlei Gefallen gerne. Zuwendung, Empathie und Berührungen helfen ihr auch, wenn sie – wie es leider oft der Fall ist – weint und schluchzt. «Kommen Sie, halten Sie mich fest», sagt sie dann. Wenn man sie in diesen Situationen fragt, was sie traurig macht, antwortet sie: «Ich gehöre nicht hierher, ich will nach Hause.» Eine Umarmung bietet in diesen schweren Momenten etwas Trost.