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Videosprechstunde

Wie wird man digitaler Doktor?

Schauspieler Michele Marotta in einer Videosprechstunde mit zwei Studenten. Bild Iris Maria Maurer

Nicht nur in Corona-Zeiten sind Video-Sprechstunden sinnvoll. Doch digitale Kompetenzen fehlen bislang im Medizinstudium. Anders im Saarland: Dort üben angehende Mediziner mit Schauspielern.

Der Mann klagt über Schmerzen im Knie. Seit vier Wochen brenne und steche es, wenn er das Knie bewege, erzählt er der Ärztin. Mit starken Schmerzmitteln werde es etwas besser, aber so richtig weg seien die Beschwerden nie. Tom Berlin, 32 Jahre alt, wirkt ungeduldig. «Keine Ahnung, woher das kommt. Ich brauche stärkere Schmerzmittel, weil ich weiter trainieren will.» Die Medizinerin versucht, den Schmerzen auf die Spur zu kommen. Unfälle? Keine. Vorerkrankungen? Auch nicht. Ob er Sport treibe? Er fahre jeden Morgen 20 bis 40 Kilometer Rad, jogge danach fünf bis zehn Kilometer und gehe mehrmals pro Woche Schwimmen, ohne trainingsfreien Tag. «Alle anderen halten das nicht durch – ich aber schon.»

Der Mann lässt die Ärztin nicht zu Wort kommen.

Mit jeder Frage kommt er auf ein anderes Thema, das mit seinen Schmerzen nichts zu tun hat. Die Medizinerin ist verwirrt und verliert den Faden. Am Ende empfiehlt sie dem Mann, regelmässig Sport zu treiben. «Das ist natürlich völlig falsch», sagt Roberto D`Amelio, Psychologe im Uniklinikum des Saarlandes in Saarbrücken. «Der Patient hat eine Sportsucht, und dass hätte sie erkennen müssen.»

Das Ganze ist eine gespielte Situation: Tom Berlin heisst in Wirklichkeit Michele Marotta und ist Schauspieler, die «Ärztin» studiert im dritten Semester Medizin. Sie nimmt am «Homburger Kommunikations- und Interaktionstraining (HOM-KIT)» teil, freiwillige eintägige Seminare für Studenten der Universität des Saarlandes. D`Amelio hat HOM-KIT im Jahr 2007 mit initiiert. In diesem Corona-Frühling verlagerte er die Kurse in den virtuellen Raum. 

Hohe Zufriedenheit

Laut einer Umfrage des Digitalverbandes Bitkom hat jeder achte Patient in Deutschland im vergangenen Frühjahr eine Videosprechstunde wahrgenommen – das sind dreimal mehr als 2019. Fast neun von zehn Patienten beurteilten ihre Erfahrung als gut oder sehr gut. Von denen, die bislang noch keine Videosprechstunde wahrgenommen hatten, konnte sich fast jeder zweite vorstellen, künftig online zum Arzt zu gehen.

Wie man «digitaler Doktor» wird, lernen Medizinstudenten bisher jedoch kaum. Es gibt zwar inzwischen auch an anderen Unis coronabedingte Video-Sprechstundenkurse – etwa in Köln, Berlin, Gießen, Halle, Hamburg, Mainz oder Tübingen – richtig systematisch und als Pflichtveranstaltung gehört das jedoch noch nicht zum Curriculum.  «Ich fand beeindruckend, wie viel man über den Patienten und seine Situation allein durch das Gespräch herausfinden kann», sagt Moritz Möhler, 28-jährig, Student im fünften Semester. «Ich hoffe, daran erinnere ich mich auch noch später als Arzt.»

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Ein Schauspiel-Patient mit einer roten Zehe und augenscheinlichem Gichtanfall will eigentlich nur ein Schmerzmittel. Unwirsch reagiert er auf Nachfragen nach Stress im Beruf und Problemen in der Ehe. Später stellt sich heraus, dass er alkoholabhängig ist.

In einem weiteren Fall müssen die Studenten erkennen, dass der Patient eine lebensbedrohliche Krankheit hat und ihm mit Ruhe und Sicherheit vermitteln, dass er schnellstmöglich in die Klinik kommen solle. Parallel rufen sie den Krankenwagen und halten die Verbindung zum Patienten, bis die Sanitäter eintreffen. «Das war komisch», sagt Möhler. «Man kann nichts machen, sondern nur beruhigend die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes überbrücken.»

Konfrontiert werden die Studenten zudem mit allen möglichen «Fallstricken». So klagt zum Beispiel ein Patient über seine Herzprobleme und nimmt nebenbei einen grossen Schluck aus einer Bierflasche – der Student sollte hier unbedingt nach den Trinkgewohnheiten fragen. Baulärm ertönt aus dem geöffneten Fenster vom Schauspiel-Patienten, es läuft laute Musik, einmal rennt ein Hund durch`s Bild – der Student sollte den Patienten bitten, für Ruhe zu sorgen. Oder er muss ihn auffordern, das Licht einzuschalten, wenn es so dunkel ist, dass er eine Hautveränderung nicht erkennen kann.

«Das Eindrucksvollste, was ich gelernt habe, war, wie wichtig und essentiell das genaue Nachfragen ist.»

Zu diesem Schluss kommt die 26-jährige Oras Obuda, Studentin im zehnten Semester. «Eine meiner Schauspiel-Patientinnen erzählte mir, sie habe seit Jahren hohen Blutdruck, aber keiner könne sich das erklären. Nur weil ich hartnäckig blieb, fand ich heraus, dass sie pro Tag zwei Liter Kaffee trinkt.» Vermutlich sei deshalb der Blutdruck so hoch gewesen. Alles, was künftigen Ärzten mehr Praxiserleben bringe, sei absolut zu begrüssen, sagt Sigrid Harendza, Professorin für Inneren Medizin und Ausbildungsforschung an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf (UKE). «Kommunikation ist aber nur eine Facette des ärztlichen Handelns», sagt sie. Weitere sind zum Beispiel: Entscheidungen treffen, priorisieren und mit Unsicherheiten umgehen.

Harendza beschäftigt seit Jahren, wie Medizinstudenten die verschiedenen Facetten, die oft separat unterrichtet werden, zusammen lernen können. Das Ergebnis: 2019 startete sie ein Assessment-Center, wo Studenten im letzten Studienjahr einen gespielten Tag in einer Notaufnahme mit vier Schauspiel-Patienten und anschliessendem Feedback durch Ausbilder und Schauspieler erleben.

Training im Arztkittel

Auch Harendza hat ihr Assessment-Center in der Krise auf Online umgestellt, aber das didaktische Prinzip ist genauso wie vorher. Normalerweise sprechen die Studenten mit den Schauspiel-Patienten im UKE, jetzt führen sie die Gespräche per Computer von zu Hause aus. Ihren Arztkittel müssen sie trotzdem anziehen – «damit sie sich möglichst echt in der Arztrolle fühlen», sagt Harendza.

Zehn Minuten haben die Studenten jeweils Zeit für ein Gespräch. Im Arztzimmer beziehungsweise in ihrem Studentenzimmer lesen sie die elektronischen Krankenakten ihrer vier Patienten, schreiben das Gespräch auf, ordnen Labortests, Röntgenbilder oder andere Untersuchungen an und überlegen sich einen Behandlungsplan.

Sie müssen entscheiden, wer eine rasche Diagnostik benötigt und wen sie zuerst dem Oberarzt vorstellen, weil er am dringendsten eine Therapie braucht.

«In unserem Training geht es um den ganzen Prozess,  der sich an das Gespräch mit dem Patienten anknüpft und weitere ärztliche Facetten enthält», sagt Harendza.» So ein praxisnahes Training solle in den Lehrplan aufgenommen werden, findet Antonia Becker, 24, Studentin im achten Semester in Frankfurt. «Im Studium sehe ich momentan die grössten Probleme darin, dass vieles zu kurz kommt, das später als Ärzte einen Grossteil unseres Alltags ausmachen wird.» Etwa Volkskrankheiten wie Rücken- oder Kopfschmerzen und wie man ungefährliche von gefährlichen Ursachen unterscheidet, wie man Diabetes oder Bluthochdruck einstellt oder wann man gegen was impfen muss.

«Vieles, was wir lernen, ist sehr spezifisch und ich frage mich, ob das jeder Arzt jeder Fachrichtung kennen muss – zum Beispiel seltene Ionenkanalerkrankungen oder Hornhautdystrophien. Obwohl seit Jahren darüber diskutiert wird, besteht unser Studium immer noch aus zu viel Theorie. Wie sollen wir dann denn gute Ärzte werden?» Professorin Harendza legt viel Wert darauf, dass ihre Studenten ein Gefühl für das spätere Arztsein bekommen. Wie es ist, selbständig Entscheidungen treffen zu müssen und zu priorisieren, es nicht als Schwäche zu empfinden, wenn man den Oberarzt um Rat fragen muss, und sich gegenüber dem Patienten verantwortlich fühlen.

«Mir berichten die Studenten immer wieder, dass sie so eine Verantwortung bisher nie im Studium gespürt haben», sagt sie. «Und das kurze Zeit, bevor sie ihre Arztprüfung ablegen und der Ernst des Lebens losgeht.» Deshalb sei es ihr auch so wichtig gewesen, ihre Trainings trotz Corona weiterhin anzubieten.

Inzwischen gibt es Hinweise, dass Studenten von telemedizinischen Trainings profitieren – vor allem dort, wo Arzt und Patient oftmals weit weg voneinander wohnen.

Er halte Video-Trainings wie jene in Saarbrücken oder Hamburg für sehr sinnvoll, sagt Daniel Bechler, Bundeskoordinator für Medizinische Ausbildung in der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland sowie Medizinstudent im achten Semester in Köln. «Doch solch einzelne Ansätze, die dann noch freiwillig sind, reichen nicht. Digitale Kompetenzen sollten umfassend ins Studium integriert werden. Während die Gesundheitsversorgung in Deutschland mit elektronischer Patientenakte, Telemedizin und Gesundheits-Apps immer digitaler wird, hinkt unsere Ausbildung hinterher.»

Video-Sprechstunden können eine wertvolle Hilfe sein – nicht nur in der Coronakrise.

Patienten, die eine Grippe haben, können ihren Arzt vorab per Video konsultieren, statt alle Mitpatienten im Wartezimmer anzustecken. Patienten mit chronischen Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck können ihren Arzt erst einmal online fragen, was sie tun sollen, wenn Zuckerwerte oder Blutdruck durcheinander geraten sind. Nach einer Schnittwunde kann man dem Arzt auch mal per Video zeigen, dass die Wunde gut verheilt, und man kann ihn fragen, ob man wegen dem Ausschlag unbedingt zum Dermatologen gehen muss.

Doch bei aller Euphorie für die neuen Techniken und bei aller Notwendigkeit für Video-Konsultationen in der derzeitigen Krise dürfen die grundlegenden Aspekte des Arztberufes nicht ausser Acht gelassen werden.

Eine vernünftige Diagnose lässt sich in den allermeisten Fällen nur stellen, wenn der Arzt den Patienten gesehen und untersucht hat.

Jede noch so gute Technik kann den persönlichen Eindruck nicht ersetzen. «Entscheiden zu können, wann ein Video-Gespräch nicht ausreicht, halte ich für ein enorm wichtiges Lernziel für die Studenten», sagt denn auch Internistin Harendza. «Die ganze Technik nützt ja nichts, wenn man es verpasst, den Patienten in die Praxis zu bitten und er dann womöglich stirbt.»


Dieser Beitrag erschien am 21. November 2020 in der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Wir danken der FAZ und der Autorin für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.