Ein Schauspiel-Patient mit einer roten Zehe und augenscheinlichem Gichtanfall will eigentlich nur ein Schmerzmittel. Unwirsch reagiert er auf Nachfragen nach Stress im Beruf und Problemen in der Ehe. Später stellt sich heraus, dass er alkoholabhängig ist.
In einem weiteren Fall müssen die Studenten erkennen, dass der Patient eine lebensbedrohliche Krankheit hat und ihm mit Ruhe und Sicherheit vermitteln, dass er schnellstmöglich in die Klinik kommen solle. Parallel rufen sie den Krankenwagen und halten die Verbindung zum Patienten, bis die Sanitäter eintreffen. «Das war komisch», sagt Möhler. «Man kann nichts machen, sondern nur beruhigend die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes überbrücken.»
Konfrontiert werden die Studenten zudem mit allen möglichen «Fallstricken». So klagt zum Beispiel ein Patient über seine Herzprobleme und nimmt nebenbei einen grossen Schluck aus einer Bierflasche – der Student sollte hier unbedingt nach den Trinkgewohnheiten fragen. Baulärm ertönt aus dem geöffneten Fenster vom Schauspiel-Patienten, es läuft laute Musik, einmal rennt ein Hund durch`s Bild – der Student sollte den Patienten bitten, für Ruhe zu sorgen. Oder er muss ihn auffordern, das Licht einzuschalten, wenn es so dunkel ist, dass er eine Hautveränderung nicht erkennen kann.
«Das Eindrucksvollste, was ich gelernt habe, war, wie wichtig und essentiell das genaue Nachfragen ist.»
Zu diesem Schluss kommt die 26-jährige Oras Obuda, Studentin im zehnten Semester. «Eine meiner Schauspiel-Patientinnen erzählte mir, sie habe seit Jahren hohen Blutdruck, aber keiner könne sich das erklären. Nur weil ich hartnäckig blieb, fand ich heraus, dass sie pro Tag zwei Liter Kaffee trinkt.» Vermutlich sei deshalb der Blutdruck so hoch gewesen. Alles, was künftigen Ärzten mehr Praxiserleben bringe, sei absolut zu begrüssen, sagt Sigrid Harendza, Professorin für Inneren Medizin und Ausbildungsforschung an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf (UKE). «Kommunikation ist aber nur eine Facette des ärztlichen Handelns», sagt sie. Weitere sind zum Beispiel: Entscheidungen treffen, priorisieren und mit Unsicherheiten umgehen.
Harendza beschäftigt seit Jahren, wie Medizinstudenten die verschiedenen Facetten, die oft separat unterrichtet werden, zusammen lernen können. Das Ergebnis: 2019 startete sie ein Assessment-Center, wo Studenten im letzten Studienjahr einen gespielten Tag in einer Notaufnahme mit vier Schauspiel-Patienten und anschliessendem Feedback durch Ausbilder und Schauspieler erleben.
Training im Arztkittel
Auch Harendza hat ihr Assessment-Center in der Krise auf Online umgestellt, aber das didaktische Prinzip ist genauso wie vorher. Normalerweise sprechen die Studenten mit den Schauspiel-Patienten im UKE, jetzt führen sie die Gespräche per Computer von zu Hause aus. Ihren Arztkittel müssen sie trotzdem anziehen – «damit sie sich möglichst echt in der Arztrolle fühlen», sagt Harendza.
Zehn Minuten haben die Studenten jeweils Zeit für ein Gespräch. Im Arztzimmer beziehungsweise in ihrem Studentenzimmer lesen sie die elektronischen Krankenakten ihrer vier Patienten, schreiben das Gespräch auf, ordnen Labortests, Röntgenbilder oder andere Untersuchungen an und überlegen sich einen Behandlungsplan.
Sie müssen entscheiden, wer eine rasche Diagnostik benötigt und wen sie zuerst dem Oberarzt vorstellen, weil er am dringendsten eine Therapie braucht.
«In unserem Training geht es um den ganzen Prozess, der sich an das Gespräch mit dem Patienten anknüpft und weitere ärztliche Facetten enthält», sagt Harendza.» So ein praxisnahes Training solle in den Lehrplan aufgenommen werden, findet Antonia Becker, 24, Studentin im achten Semester in Frankfurt. «Im Studium sehe ich momentan die grössten Probleme darin, dass vieles zu kurz kommt, das später als Ärzte einen Grossteil unseres Alltags ausmachen wird.» Etwa Volkskrankheiten wie Rücken- oder Kopfschmerzen und wie man ungefährliche von gefährlichen Ursachen unterscheidet, wie man Diabetes oder Bluthochdruck einstellt oder wann man gegen was impfen muss.