«Wenn ich sehe, was für einen Durchlauf an Patienten manche Ärzte pro Tag haben, frage ich mich, wie es da überhaupt zu einfühlsamen Gesprächen kommen soll», sagt Franziska, Psychotherapeutin in Luzern. Abgesehen von der Zeit: Es gibt leider immer noch Mediziner, die die Kontrolle über die Behandlung behalten möchten, die nicht genügend trainiert sind, wie sie verständlich mit dem Patienten reden, denen das zu aufwändig ist oder der Patient zu lästig.
«Fragte ich meinem alten Hausarzt, warum er Medikament A empfehle und nicht Medikament B, hat er oft gesagt: Bin ich jetzt der Arzt oder Sie?», erzählt Peter. «Er hatte offenbar das Gefühl, ich würde an seiner Kompetenz zweifeln.» Gerade jungen Ärzten fehle zudem mitunter das Menschliche, kritisiert Franziska. Womöglich läge das an der Ausbildung und an fehlender Lebenserfahrung. «Ich will Computer und Apps nicht kritisieren, aber ohne menschliche Zuwendung und Vertrauen führt die beste Technik nicht zur Heilung.»
Komplementär macht schule
Mehr als 4 von 10 Personen waren im Jahr der Befragung bei einem Spezialisten gewesen – das ist deutlich mehr als 2002. Das Bedürfnis nach einer guten medizinischen Versorgung ist also gross, und Menschen verlassen sich längst nicht mehr nur auf die so genannte Schulmedizin. 29 von 100 Befragten gaben an, sie liessen sich pro Jahr mindestens einmal komplementärmedizinisch behandeln, etwa mit Akupunktur, chinesischer Medizin, Homöopathie oder Osteopathie. Das sind fast doppelt so viele wie in der Befragung von 2002.
Es liegt aber auch an den Patienten selbst. Eine lässt lieber den Arzt entscheiden, ob ihr Krebs operiert oder lieber mit Chemotherapie behandelt werden soll. «Das ist natürlich ihr gutes Recht», sagt Regula Capaul, Allgemeininternistin in Zürich und Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin. «Ich möchte aber, dass sie meinen Vorschlag nachvollziehen kann und hole mir ihr Einverständnis für die Therapie ab.» Ein anderer Patient sagt ebenfalls Ja und Amen zu allen Vorschlägen des Arztes – Abnehmen, mit dem Rauchen aufhören, mehr Sport treiben und brav die Medikamente nehmen – und lässt dann doch alles bleiben.
Der dritte versteht nicht, was der Arzt ihm erklärt und traut sich nicht zu fragen. Der vierte hat sich im Internet bestens informiert und weiss alles besser als der Arzt. Dabei kann er die Studien, die er gelesen hat, nicht einordnen und lässt sich nicht erklären, dass diese Behandlung für sein Problem gar nicht geeignet ist. Oder er beharrt auf einer komplementärmedizinischen Behandlung, obwohl diese erwiesenermassen schaden könnte – zum Beispiel wenn ein Patient eine Chemotherapie bekommt und traditionelle chinesische Kräuter nehmen möchte.
«Ich erkläre dem Patienten, wo er über das Thema seriös und verständlich im Internet nachlesen kann und versuche zu verstehen, warum er auf der Behandlung beharrt», sagt Capaul. «Im Gespräch finden wir dann doch eine Lösung, die weniger Nebenwirkungen hat und trotzdem komplementär ist – zum Beispiel Akupunktur.»
neuer Trend: Functional Medicine
Patienten erhoffen sich offenbar viel von «komplementären» Heilmethoden, und Therapeuten denken sich neue Konzepte aus, um die Wünsche nach «ganzheitlicher» Behandlung zu erfüllen. Ein Trend ist zum Beispiel die «Functional Medicine», ins Leben gerufen vom US-amerikanischen Biochemiker Jeffry Bland. Functional Medicine will sich auf die «Grundursachen» der Krankheiten fokussieren und diese mit einem «individualisierten, patientenzentrierten, wissenschaftsbasierten Ansatz» angehen. Es ist aber nirgendwo definiert, was «Functional Medicine» eigentlich ist. Im Grunde genommen kann man es als gut vermarktete «Neuauflage» komplementärer Behandlungen sehen, die übrigens Elemente der evidenzbasierten Medizin enthält.
Der Patient der Zukunft hinterfragt medizinische Angebote kritisch und informiert sich in seriösen Quellen. Das gilt für so genannte komplementäre Massnahmen genauso wie für die «klassische» Schulmedizin. Der Patient der Zukunft respektiert, dass der Arzt andere Kompetenzen hat, aber er fragt hartnäckig und kritisch, wenn er etwas nicht versteht oder wenn er mit einer Behandlung nicht einverstanden ist. Helfen kann hier die Initiative «smarter medicine», lanciert im Jahre 2017 in Anlehnung an das amerikanische «choosing wisely».