Macht Fernsehen dement? Zwei Experten geben Auskunft
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Macht Fernsehen dement?

Streaming-Anbieter haben Hochkunjunktur – zum Leidwesen unserer Gesundheit. Bild Unsplash

Die Menschen nutzen immer häufiger Streaming-Dienste. Was macht das mit unserem Hirn? Eine Studie aus London gibt Anlass zur Sorge. Aber Fernsehen ist nicht gleich Fernsehen.

Für viele Menschen scheint das Fernsehen und Streamen von Filmen und Serien die einzige Freizeitbeschäftigung zu sein. Das lassen zumindest zwei Umfragen des Online-Vergleichsdienstes Moneyland unter jeweils rund 1500 Schweizern vermuten. 2018 sagte jeder fünfte Befragte, er würde Netflix nutzen, 2020 war es fast jeder zweite. Mittlerweile nutzen 85 Prozent der Bevölkerung mindestens einen der 25 von Moneyland abgefragten Streaming-Dienste. Was das für Auswirkungen auf die Psyche hat, bleibt abzuwarten.

Für Menschen über 50 könnte es ungünstig sein, lange in den Bildschirm zu starren, denn womöglich erhöht dies das Risiko für eine Demenz. Darauf weist zumindest eine Studie vom University College in London aus dem Jahr 2019 hin. Daisy Fancourt und Andrew Steptoe von der Abteilung für Verhaltenswissenschaften und Gesundheit untersuchten 3662 Erwachsene über 49 Jahren, die an einer britischen Alters-Langzeitstudie teilgenommen hatten. Sie erfragten das Fernsehverhalten der Männer und Frauen in den Jahren 2008 und 2009 und schauten dann sechs Jahre später, also 2014/2015, wie sich dies auf die Hirnleistung auswirkte. Dies massen sie zum einem mit einem verbalen Merktest, zum anderen mit einem Wortflüssigkeits-Test.

Im verbalen Merktest wurden den Teilnehmern alle zwei Sekunden zehn Worte vorgesprochen. Kurz danach und nach einer Unterbrechung durch andere Hirn-Tests sollten sie sich an so viele Worte wie möglich erinnern. Im Wortflüssigkeits-Test sollten die Probanden in einer Minute so viele Tierbegriffe wie möglich sagen. Von beiden Tests ist bekannt, dass sie auf einen kognitiven Verfall weisen können.

Diejenigen, die im Schnitt mehr als 3,5 Stunden pro Tag ferngesehen hatten, schnitten Jahre später im verbalen Merktest schlechter ab, aber nicht im Wortflüssigkeitstest. Das Ergebnis war unabhängig von anderen Faktoren, durch die sich die Hirnleistung verschlechtern könnte, etwa körperliche Bewegung, viel Sitzen oder andere Krankheiten. Die Autoren schliessen daraus: Schaut man mehr als dreieinhalb Stunden fern pro Tag, besteht ein Zusammenhang zu kognitivem Verfall. Soll man sich nun die geliebten Serie und Filme verkneifen? Wir haben den Medienpsychologen Daniel Süss und den Psychiater Robert Perneczky gefragt.

Daniel Süss: «Man muss diese Studie kritisch lesen»

demenzjournal: Herr Süss, macht Fernsehen dement?

Daniel Süss: Nein, so pauschal lässt sich das nicht sagen. Fernsehen per se ist kein Risiko dafür, dass dadurch unsere Hirnleistung irgendwann nachlässt. Aber möglicherweise könnte die Dauer eine Rolle spielen. Gemäss der Studie schnitten Menschen, die mehr als dreieinhalb Stunden pro Tag fernsahen, schlechter in Wort-Merktests ab. Wenn jemand in solchen verbalen Gedächtnistests nicht so gut ist, heisst das allerdings noch lange nicht, dass das der Beginn einer Demenz ist. Sich Wörter zu merken ist nur ein Indikator von vielen, die darauf hinweisen können.

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Wie aussagekräftig ist so ein Wort-Merktest für die Diagnose einer Demenz?

Die Diagnose wird üblicherweise anhand der Symptome und anhand der Ergebnisse von diversen Tests gestellt. Standard-Tests sind zum Beispiel der Minimental-Test oder der Uhrentest. Ich wundere mich, dass die Autoren diese Tests nicht durchführen liessen. Es gibt aber noch ein paar andere Punkte, weshalb man die Studie kritisch lesen muss.

Und zwar?

Es könnte zum Beispiel sein, dass Menschen, deren Hirnleistung sich verschlechtert, immer mehr fernsehen. Ob das so ist, lässt sich mit der Studie nicht sagen. Es kann sein, dass beides eine Rolle spielt: Lässt die Hirnleistung nach, haben die Betroffenen immer weniger Lust etwas zu unternehmen und schalten lieber den Fernseher an. Und der hohe Fernsehkonsum lässt die kognitive Leistung dann möglicherweise noch schlechter werden.

»Auf bewussten Medienkonsum kommt es an«, sagt der Medienpsychologe Daniel Süss.
»Auf bewussten Medienkonsum kommt es an«, sagt der Medienpsychologe Daniel Süss.Bild John Flury

Was kritisieren Sie noch?

Dass die Autoren nicht erfasst haben, welche Sendungen die Studienteilnehmer angesehen haben und in welchem Kontext. Schaut jemand zum Beispiel mit wachem Interesse jeden Tag Nachrichten, Dokumentationen und Reportagen auf ARTE und zwischendurch einen anspruchsvollen Film, beansprucht das das Hirn viel mehr, als wenn jemand in derselben Zeit wahllos durch die Sender zappt oder niveaulose Komödien oder Fernsehshows passiv konsumiert.

Teilnehmer mit besserer Kognition zu Beginn der Studie waren stärker vom kognitiven Verfall durch das Fernsehen betroffen. Wie erklären Sie sich das?

Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die Personen mit anfangs besseren kognitiven Fähigkeiten andere Aktivitäten vernachlässigen, die vorher kognitiv stimulierend gewirkt haben. Vielleicht ist es gar nicht primär das viele Fernsehen, das sich negativ auswirkt, sondern dass die Betroffenen für Aktivitäten keine Zeit mehr haben, die sich auf das Hirn stimulierend auswirken. Zum Beispiel Zeitung lesen, Musizieren, Sport treiben oder sich mit anderen Menschen treffen.

Aber warum macht sich das stärker bemerkbar bei Personen mit anfangs besseren kognitiven Fähigkeiten?

Die Autoren der Studie geben dazu keine Erklärung. Aber es ist plausibel. Wer auf höherem Niveau startet und dann das Hirntraining vernachlässigt, hat mehr zu verlieren als eine Person, die auch zuvor schon weniger leistungsstark war.

Nehmen wir an, der beobachtete Zusammenhang stimmt und durch viel Fernsehen lässt wirklich die Hirnleistung nach. Wie erklären Sie sich das?

Fernsehen führt zu einem Zustand von Erregung des Gehirns bei gleichzeitiger Passivität, wodurch dann letztendlich die kognitiven Fähigkeiten nachlassen. Fernsehen ist zudem mit Stress verbunden durch die intensiven, schnell wechselnden Stimuli und Szenen mit Spannung oder Gewalt. Dauerstress kann ebenfalls die kognitiven Funktionen verschlechtern.

Allerdings kann man hier einwenden, dass es sehr auf die Genrepräferenzen und die Medienkompetenz ankommt, ob jemand einen Film als Stress oder als angenehme Stimulation erlebt. Und eine Fernsehsendung kann ja durchaus zu angeregten Diskussionen führen oder ein Spielfilm kann zu einer intensiven inneren Auseinandersetzung mit Lebensthemen führen, die einen beschäftigen.

Würden Sie Menschen über 50 raten, ihren Fernsehkonsum zu begrenzen?

Ich rate zu einer Balance zwischen verschiedenen Aktivitäten im Alltag, wobei Fernsehen durchaus ein Teil sein darf. Zu einem kompetenten Medienumgang gehört, immer wieder zu prüfen, welche Inhalte und Nutzungsformen einem gut tun und welche nicht. In der Schweiz schauen Menschen zwischen 45–59 im Schnitt etwas über 120 Minuten pro Tag fern, Menschen über 60 etwa 190 Minuten. Gemäss der Studie sollte man bei 210 Minuten und mehr pro Tag vorsichtig sein. Um geistig und körperlich fit zu bleiben und sich wohl zu fühlen, würde ich den Alltag nicht primär mit Fernsehen oder anderen Formen von passivem Bildschirmkonsum in sitzender Position füllen.

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Der Lockdown hat dazu geführt, dass mehr Menschen Streamingdienste nutzen,  etwa Netflix. Da bleibt man schnell mal zu lange hängen. Hier ist also besonders wichtig, selbstdiszipliniert auf die Zeit zu achten. Es kann helfen, sich den Wecker zu stellen für regelmässige Spaziergänge an der frischen Luft mit Freunden, mit denen man anregende Gespräche führen kann – das ist dann auch Coronakompatibel.

Robert Perneczky: «Fernsehen scheint das Risiko zu erhöhen»

demenzjournal: Macht Fernsehen dement?

Robert Perneczky: Die Studie legt glaubhaft nahe, dass es einen Dosis-Wirkungs-Zusammenhang zwischen der Fernsehzeit und der Verschlechterung des verbalen Gedächtnisses gibt, also wie man in Gedächtnistests abschneidet. Das heisst jedoch nicht, dass Fernsehen dement macht. Teilnehmer, die innerhalb von zwei Jahren nach Beobachtungsende eine Demenz entwickelt haben, wurden sogar ausgeschlossen. Der einzige Schluss, der sich ziehen lässt: Schaut man sehr viel Fernsehen pro Tag, scheint das das Risiko für eine Demenz zu erhöhen.

Zur Person

Prof. Robert Perneczky ist Facharzt für Psychotherapie, Psychiatrie und Geriatrie und leitet die Sektion für Psychische Gesundheit im Alter und das Alzheimer Therapie- und Forschungszentrum an der LMU München. Ausserdem ist er Arbeitsgruppenleiter im Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in München.

Kann das erhöhte Demenzrisiko nicht auch durch andere Faktoren bedingt sein?

Sie haben Recht. Allein aus einer Assoziation darf man keine Kausalität ableiten, also dass das viele Fernsehen wirklich die Ursache für die Demenz ist. Es gibt aber einige Faktoren, die eine mögliche Kausalität nahelegen.

Zum Beispiel?

Es ist gut belegt, dass geringe Bildung oder viel Sitzen das Risiko für eine Demenz erhöht. Es hätte sein können, dass die Viel-Fernsehgucker sich kaum körperlich bewegt haben oder eine geringe Schuldbildung hatten. Aber das haben die Forscher so gut wie ausgeschlossen durch ihre Berechnungen. Kritisch sehe ich den Punkt der reversen Kausation.

Robert Perneczky.
Robert Perneczky.Bild Robert Perneczky

Was bedeutet das?

Das viele Fernsehen könnte keine Ursache der Demenz sein, sondern umgekehrt ein Zeichen dafür, dass sich eine Demenz anbahnt. Auch hier haben die Wissenschafter versucht, durch ihren Studienaufbau diese Möglichkeit so gut wie auszuschliessen. So haben sie zum Beispiel Probanden ausgeschlossen, die innert zwei Jahren nach Studienende eine Demenz bekamen.

Ganz sicher kann man sich aber trotzdem nicht sein. Dafür wäre ein deutlich längerer Untersuchungszeitraum erforderlich, am besten von der Jugend bis ins hohe Alter. So eine Studie lässt sich aber praktisch und ethisch nicht umsetzen.

Teilnehmer mit besserer Hirnleistung zu Beginn der Studie waren mehr betroffen vom kognitiven Verfall durch Fernsehkonsum. Wie erklären Sie sich das?

Das weiss ich leider nicht. Dafür liefern auch die Autoren keine gute Erklärung. Zumindest spricht diese Tatsache gegen das Phänomen der reversen Kausation. Bei einem stärkeren kognitiven Abfall bei schlechterer Ausgangsleistung könnte man annehmen, dass diese Personen schon eine beginnende Demenz hatten. So war es aber nicht.

Wie verlässlich ist der Wort-Test, um eine Demenz festzustellen?

Die Diagnose einer Demenz stellen wir anhand der Symptome und einer Vielzahl psychometrischer Tests. Der Wort-Test ist nur einer davon. Ehrlich gesagt habe ich mich gewundert, dass die Autoren den Test verwendet haben. Am häufigsten testen wir mit dem Mini-Mental-Status-Test (MMST). Damit können wir einschätzen, ob der Patient möglicherweise kognitive Störungen hat und wie schwer diese sind.

Ein anderer häufig angewendeter Test ist der Uhrentest. Der Patient zeichnet in einen vorgegebenen Kreis die zwölf Zahlen einer Uhr und die Stellung der Zeiger und der Untersucher beurteilt, wie genau er das gemacht und wie viel Zeit er gebraucht hat. Für die Diagnose reicht der Test nicht aus, eignet sich aber zur Verlaufskontrolle.

Würden Sie trotz der Unsicherheiten der Studie raten, weniger fernzusehen?

Fernsehen ist eine sehr passive Tätigkeit, die verhindert, dass man sein Hirn benutzt, sich körperlich betätigt, soziale Kontakte pflegt. Ich würde nicht vom Fernsehen generell abraten, aber man sollte noch genug Zeit haben für andere Aktivitäten, die einem Freude machen, wo man andere Menschen trifft und idealerweise wo man sich bewegt. Ich empfehle hier gerne Tanzen – das kombiniert alles drei zusammen.

Quelle RPP/YouTube