Vorsicht mit Antipsychotika bei Demenz!
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Antipsychotika

Besser umarmen als Tabletten geben

Traurige Frau mit Demenz auf Sessel

Die Frau hat starke Stimmungsschwankungen – soll sie deshalb mit Medikamenten behandelt werden? Bild Karolina Grabowska Pexels

Antipsychotika werden gegen Unruhe und Aggressivität viel zu häufig verschrieben, obwohl sie starke Nebenwirkungen verursachen. Viel besser sind nichtmedikamentöse Maßnahmen. Doch was tun, wenn man als Angehöriger überfordert ist?

Ob es an dem Medikament lag, dass es ihrer Mutter auf einmal schlechter ging, weiss die Frau bis heute nicht, und das lässt sich auch schwer nachweisen. Tatsache ist, dass die 78 Jahre alte Frau von einem Besuch auf den anderen wie verwandelt erschien. Sie hat eine Alzheimer-Demenz und weiß zwar nicht mehr genau, wer die Tochter ist, spürt aber, dass das jemand ist, den sie gut kennt und der sie sehr mag. Die beiden kochen und backen, gehen jeden Tag ein paar Meter spazieren, die Mutter ist mal fröhlich, mal traurig, macht die Tochter manchmal durch ihre Unruhe nervös, aber die beiden haben es gut zusammen.

Doch dieses Mal ist die Mutter wie ausgewechselt. Sie sitzt steif am Tisch und starrt leer vor sich hin. Sie bewegt sich kaum, keine Reaktion kommt über ihr Gesicht. Sie wirkt »gedämpft«, so, als hätte jemand ihren inneren Motor heruntergeschaltet. Ihr Mann hat einen Rollstuhl besorgt, weil seine Frau nun kaum noch gehen kann. Morgens kommt eine Pflegerin, den Rest macht der ebenfalls 78-Jährige allein.

Die Tochter arbeitet im Medienbereich und kommt einmal im Monat aus ihrem mehr als tausend Kilometer entfernten Wohnort zu Besuch. Sie möchte ihren Namen nicht nennen, weil sie nicht weiss, ob das ihrer Mutter Recht wäre. Als sie das traurige, starre Gesicht ihrer Mutter sieht, kann sie die Tränen kaum unterdrücken. »Was ist bloß mit Mamma los?« Tage später erfährt sie, dass die Psychiaterin ihrer Mutter ein Antipsychotikum verschrieben hat, angeblich, um ihre »ständige Unruhe« zu lindern.

Tatsächlich kann ihre Mutter einen manchmal zur Weißglut bringen, wenn sie ständig umherläuft, Türen immer wieder auf- und zumacht oder beim Essen mit dem Messer auf dem Tisch herumhämmert. Wütend und todtraurig wird die Tochter manchmal, wenn die Mutter sie am Handgelenk packt, schimpft und sagt »Du bist doof« oder laut »Nein!« schreit, wenn die Tochter sie duschen will und um sich schlägt.

Unruhe, Apathie, Angst usw. kommen bei Demenz häufig vor

Fast alle Menschen mit Demenz zeigen im Laufe der Erkrankung solche behavioralen – also das Verhalten betreffend – und psychischen Symptome einer Demenz, kurz BPSD. Typisch sind Unruhe, aber auch Apathie, Traurigkeit bis zur Depression, Ängste, spontanes Lachen oder Weinen, leichte Reizbarkeit, Halluzinationen und aggressives oder enthemmtes Verhalten – etwa sich in der Öffentlichkeit ausziehen.

Die Symptome sollen gemäß nationaler und internationaler Leitlinien in erster Linie ohne Medikamente behandelt werden. Antipsychotika sollten erst dann gegeben werden, wenn die nichtmedikamentösen Maßnahmen nicht helfen oder die Betroffenen durch ihr aggressives Verhalten sich und andere gefährden könnten. Denn die Medikamente verursachen häufig und schwere Nebenwirkungen, die für Menschen mit Demenz besonders problematisch sind.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Die häufigsten sind: Parkinsonähnliche Beschwerden wie bei der 78 Jahre alten Frau mit Muskelsteife, Bewegungsstörungen, Zittern, Gangunsicherheit und Sturzgefahr, daneben Schwindel, Kopfschmerzen, Verstopfung, Sehstörungen, Probleme mit dem Wasserlassen und Gewichtzunahme. In der Tat – die Mutter hatte seit letztem Mal deutlich zugelegt, stellt die Tochter fest, und in der Nacht, als sie jetzt zu Besuch ist, findet sie die Mutter neben dem Bett liegen – womöglich war ihr beim Aufstehen schwindelig geworden und sie war aus dem Bett gerutscht.

Die Liste der schlimmen Nebenwirkungen geht noch weiter: Lungenentzündung, akuter Nierenschaden, Thrombose, Herzinfarkt, Knochenbrüche und Herzversagen, und das Risiko für Schlaganfälle und einen vorzeitigen Tod ist erhöht. Die Tochter drängt den Vater, mit der Psychiaterin zu sprechen, das Antipsychotikum auszuschleichen. Die scheint nicht begeistert zu sein, willigt aber ein.

Vor allem in den Heimen werden oft Medikamente verabreicht

Ob die Psychiaterin mit der Verschreibung korrekt gehandelt hat, ist sehr fraglich. Denn weder hatte sie dem Ehemann Tipps für nichtmedikamentöse Maßnahmen gegeben, noch war seine Frau so aggressiv, dass sie sich oder andere hätte gefährden können. So wie die Ärztin scheinen aber offenbar viele Mediziner zu handeln. Gemäß einem aktuellen Bericht des Barmer-Krankenkasse in Deutschland bekommen etwa 140 von 1000 Menschen mit Demenz ein Antipsychotikum pro Quartal verschrieben. Ausgewertet wurden Daten der rund neun Millionen Barmer-Versicherten aus den Jahren 2017 bis 2022.

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Von den Menschen mit Demenz, die zu Hause leben, erhielt jeder fünfte ein Antipsychotikum, von denen in Kurzzeit- oder Langzeitpflegeheimen war es mehr als jeder zweite. Von den Langzeitbewohnern bekam jeder vierte so hohe Dosen, die entweder einer sehr häufigen Verschreibung bei Bedarf entsprachen oder einer niedrig dosierten Dauertherapie. Auch das widerspricht den Leitlinien: Antipsychotika sollten möglichst nicht länger als vier bis sechs Wochen verschrieben werden, und jeden Monat ist zu überlegen, ob das Präparat gestoppt werden kann.

In der Schweiz sieht die Situation ähnlich aus: Gemäß einer Analyse aus dem Jahr 2022 mit Daten von 92216 Bewohnern in 619 Pflegeheimen bekamen im Jahr 2020 zwei von drei Bewohnern mit Zeichen einer Demenz und typischen Verhaltensauffälligkeiten ein Antipsychotikum. Selbst jeder dritte von denen mit nur leicht eingeschränkter Hirnfunktion ohne Verhaltensauffälligkeiten erhielt ein Antipsychotikum.

Behandlung muss individuell angepasst sein

BPSD entstehen durch verschiedene Faktoren zusammen, was erklärt, warum die Ausprägung von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist und warum die Behandlung individuell angepasst sein muss. So kann die Demenz zum einen Bereiche im Hirn schädigen, die für die Verarbeitung und Steuerung von Emotionen und Verhalten zuständig sind. Hinter Unruhe, Apathie oder Aggressivität können auch Schmerzen, Schlafstörungen, ein Harnwegsinfekt, Verstopfung oder Nebenwirkungen von Medikamenten stecken. Auch Hunger kann einen Menschen mit Demenz unruhig oder wütend machen, ebenso unerfüllte Bedürfnisse nach körperlicher Nähe.

Reden pflegende Angehörige aus lauter Erschöpfung unwirsch und ungeduldig mit dem Betroffenen oder schreien ihn gar an, ist vorstellbar, dass dieser entweder auch aggressiv reagiert oder traurig wird und weint. Ein weiterer Faktor ist die Umgebung: So kann beispielsweise unruhiges Verhalten ein Zeichen dafür sein, dass es dem Menschen mit Demenz zu laut ist oder sich langweilt oder sich nicht mehr orientieren kann.

demenzwiki

Aggression

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Findet sich ein Auslöser, versucht man natürlich erst einmal den anzugehen. Also beispielsweise eine Zahnsanierung bei entzündlicher Karies, eine neue Brille zur besseren Orientierung oder eine Ernährungs-Umstellung gegen Verstopfung. Betreuer können von Psychoedukation profitieren, also dass man ihnen die Symptome und den Hintergrund erklärt, von Schulungen zum Lernen von Bewältigungsstrategien sowie Teilnahme an Selbsthilfegruppen.

Für die Betroffenen zeigte Hirntraining einen Effekt, zum Beispiel Erinnerungstherapie, wo man mit dem Betroffenen Erlebnisse und Aktivitäten von früher mit Hilfe von Fotos oder Musik wiederaufleben lässt. Manchen Patienten ging es besser mit körperlicher Bewegung, Beschäftigung, Musizieren, Tanzen, dank Licht- oder Aromatherapie, Massagen oder Snoezeln.

Lernvideo – Rufen und Schreien

Was ist zu tun, wenn er plötzlich anfängt rumzuschreien? demenzjournal/Marcus May

Helfen diese Maßnahmen nicht, können zunächst Medikamente versucht werden, die standardmäßig bei Alzheimer-Demenz zur Verbesserung der Hirnfunktion eingesetzt werden – etwa Memantin oder Donepezil –, denn diese sind besser verträglich als Antipsychotika und können auch BPSD lindern. Erst wenn diese nicht ausreichen, können Antipsychotika überlegt werden. »Für schwere, aggressive Verhaltensstörungen, also wenn der Betroffene schubst, mit den Füßen tritt, um sich schlägt, beißt oder Gegenstände wirft, haben wir bisher leider keine Alternative«, sagt Tillmann Supprian, ärztlicher Direktor Gerontopsychiatrie in der Uniklinik in Düsseldorf.

Man darf aber nicht hoffen, dass die Symptome mit Antipsychotika bei jedem sofort und komplett verschwinden. Wirksam bedeutete in den Studien, dass sich die Punktwerte auf standardisierten Skalen etwas besserten, mit denen die Verhaltensstörungen gemessen werden. Doch selbst wenn sich die Symptome nur etwas besserten, könne das schon viel ausmachen, sagt Supprian. »Zum Beispiel ist die Person dann vielleicht immer noch unruhig, aber nicht mehr so extrem aggressiv.« Begonnen wird jeweils mit der kleinsten Dosis, und nach einigen Wochen sollte versucht werden, die Dosis zu reduzieren und allenfalls das Medikament zu stoppen.

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Antipsychotika seien nicht per se schlimm, sagt Petra Thürmann, Lehrstuhlinhaberin Klinische Pharmakologie in der Uni Witten-Herdecke und Hauptautorin des Barmer-Berichtes. »Aber man muss einen möglichen Nutzen gegen die bekannten Nebenwirkungen abwägen.« Ihr Tipp für Angehörige und Pflegende: »Täglich auf Zeichen von Nebenwirkungen achten.« Tritt übermäßige Schläfrigkeit auf? Klappt der Stuhlgang gut? Schluckprobleme, Schwindel oder ein Gang wie ein Seemann? »Spätestens dann sollte man den Psychiater aufsuchen und um Reduktion der Dosis oder Wechsel des Präparates bitten.«

Lieselotte Klotz ist gegen Antipsychotika. Die Demenz-Aktivistin hat ihre Mutter Liesel, die unter Alzheimer litt, zwölf Jahre zu Hause bis zu deren Tod gepflegt. »Anfangs, als sie ständig unruhig war und manchmal aggressiv, fühlte ich mich hilflos«, erzählt sie. »Ich lernte erst mit der Zeit, wie ich ihr am besten helfen und mich schützen kann: Mit Liebe, Humor und einem Repertoire an Maßnahmen

Musik, Berührungen und Rituale helfen

Gemeinsames Hören ihrer Lieblingsmusik, Betrachten alter Fotos und das tägliche gemeinsame Kochen wurden zu Ritualen, mit denen die Symptome weniger auftragen. War ihre Mutter wieder einmal extrem aufgeregt und unruhig, hielt sie ihr die Hand, manchmal sanft, manchmal energisch. »Oft half es, sie einfach nur in den Arm zunehmen, sie zu streicheln oder eine bekannte Melodie zu summen.«

Menschen mit Demenz haben das Recht, vor einer medizinischen Behandlung verständlich aufgeklärt zu werden, insbesondere über Nebenwirkungen und Alternativen. Ist der Betroffene nicht mehr einwilligungsfähig, muss der Betreuende/Angehörige vollständig informiert werden und im Sinne des demenzkranken Menschen entscheiden. »Das kann auch ein bewusster Verzicht auf Antipsychotika sein, was mit Ausnahme von Notfällen auch immer möglich ist«, sagt Timm Laue-Ogal, Fachanwalt für Medizinrecht in Osnabrück. »Allein der Mensch mit Demenz beziehungsweise sein Betreuer darf entscheiden, welche Therapie durchgeführt werden soll.«

Inzwischen ist die nun 81 Jahre alte Frau in einem Pflegeheim in Nordrhein-Westfalen – die Pflege zu Hause war nicht mehr zu schaffen. Jüngst war die Tochter bei einem ihrer Besuche erneut schockiert, denn die Psychiaterin hatte wieder ein Antipsychotikum verschrieben – angeblich, weil die Frau öfter mal weine. Die Verschreibung sei mit Einverständnis der zuständigen Pflege erfolgt, erfuhr die Tochter von der Pflegedienstleitung. »Das wird hier öfter so gehandhabt.«

Rechtsanwalt Laue-Ogal kommentiert: »Selbst wenn Angehörige oder Betreuende im Heimvertrag ihre Zustimmung zu allen möglichen Medikationen gegeben haben, ist das rechtlich unwirksam, und die Psychiaterin könnte auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld belangt werden.« Er ermutigt Betreuende, rechtzeitig zu intervenieren. »Fordern Sie eine umfassende, verständliche Aufklärung ein, wenn der Arzt ein Antipsychotikum verschreiben will«, sagt er. »Und fragen sie ihn, wann man das wieder absetzen kann.« Habe man in das Antipsychotikum eingewilligt, könne man die Einwilligung jederzeit widerrufen.

Das zweite Antipsychotikum konnten Tochter und Vater rechtzeitig stoppen. Die 81 Jahre alte Frau ist schon lange nicht mehr unruhig, sie scheint im Heim angekommen zu sein. Sie ist in ihrer Welt, aber wenn ihre Tochter kommt, lacht und weint sie zugleich.