Antipsychotika seien nicht per se schlimm, sagt Petra Thürmann, Lehrstuhlinhaberin Klinische Pharmakologie in der Uni Witten-Herdecke und Hauptautorin des Barmer-Berichtes. »Aber man muss einen möglichen Nutzen gegen die bekannten Nebenwirkungen abwägen.« Ihr Tipp für Angehörige und Pflegende: »Täglich auf Zeichen von Nebenwirkungen achten.« Tritt übermäßige Schläfrigkeit auf? Klappt der Stuhlgang gut? Schluckprobleme, Schwindel oder ein Gang wie ein Seemann? »Spätestens dann sollte man den Psychiater aufsuchen und um Reduktion der Dosis oder Wechsel des Präparates bitten.«
Lieselotte Klotz ist gegen Antipsychotika. Die Demenz-Aktivistin hat ihre Mutter Liesel, die unter Alzheimer litt, zwölf Jahre zu Hause bis zu deren Tod gepflegt. »Anfangs, als sie ständig unruhig war und manchmal aggressiv, fühlte ich mich hilflos«, erzählt sie. »Ich lernte erst mit der Zeit, wie ich ihr am besten helfen und mich schützen kann: Mit Liebe, Humor und einem Repertoire an Maßnahmen.«
Musik, Berührungen und Rituale helfen
Gemeinsames Hören ihrer Lieblingsmusik, Betrachten alter Fotos und das tägliche gemeinsame Kochen wurden zu Ritualen, mit denen die Symptome weniger auftragen. War ihre Mutter wieder einmal extrem aufgeregt und unruhig, hielt sie ihr die Hand, manchmal sanft, manchmal energisch. »Oft half es, sie einfach nur in den Arm zunehmen, sie zu streicheln oder eine bekannte Melodie zu summen.«
Menschen mit Demenz haben das Recht, vor einer medizinischen Behandlung verständlich aufgeklärt zu werden, insbesondere über Nebenwirkungen und Alternativen. Ist der Betroffene nicht mehr einwilligungsfähig, muss der Betreuende/Angehörige vollständig informiert werden und im Sinne des demenzkranken Menschen entscheiden. »Das kann auch ein bewusster Verzicht auf Antipsychotika sein, was mit Ausnahme von Notfällen auch immer möglich ist«, sagt Timm Laue-Ogal, Fachanwalt für Medizinrecht in Osnabrück. »Allein der Mensch mit Demenz beziehungsweise sein Betreuer darf entscheiden, welche Therapie durchgeführt werden soll.«
Inzwischen ist die nun 81 Jahre alte Frau in einem Pflegeheim in Nordrhein-Westfalen – die Pflege zu Hause war nicht mehr zu schaffen. Jüngst war die Tochter bei einem ihrer Besuche erneut schockiert, denn die Psychiaterin hatte wieder ein Antipsychotikum verschrieben – angeblich, weil die Frau öfter mal weine. Die Verschreibung sei mit Einverständnis der zuständigen Pflege erfolgt, erfuhr die Tochter von der Pflegedienstleitung. »Das wird hier öfter so gehandhabt.«
Rechtsanwalt Laue-Ogal kommentiert: »Selbst wenn Angehörige oder Betreuende im Heimvertrag ihre Zustimmung zu allen möglichen Medikationen gegeben haben, ist das rechtlich unwirksam, und die Psychiaterin könnte auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld belangt werden.« Er ermutigt Betreuende, rechtzeitig zu intervenieren. »Fordern Sie eine umfassende, verständliche Aufklärung ein, wenn der Arzt ein Antipsychotikum verschreiben will«, sagt er. »Und fragen sie ihn, wann man das wieder absetzen kann.« Habe man in das Antipsychotikum eingewilligt, könne man die Einwilligung jederzeit widerrufen.
Das zweite Antipsychotikum konnten Tochter und Vater rechtzeitig stoppen. Die 81 Jahre alte Frau ist schon lange nicht mehr unruhig, sie scheint im Heim angekommen zu sein. Sie ist in ihrer Welt, aber wenn ihre Tochter kommt, lacht und weint sie zugleich.