Sind Alzheimer-Diagnosen ein lukrativer Schwindel? - demenzjournal.com
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Pro und Kontra

Sind Alzheimer-Diagnosen ein lukrativer Schwindel?

Irene Bopp (links) und Cornelia Stolze. Bild Roland Brändli/PD

Irene Bopp-Kistler, leitende Ärztin der Memory Clinic Waid Zürich, diagnostiziert Alzheimer und andere Demenzformen. Die Biologin und Wissenschaftsjournalistin Cornelia Stolze sagt, die Krankheit Alzheimer gebe es nicht. Für alzheimer.ch haben die beiden ihre Argumente ausgetauscht.

Irene Bopp

Alzheimer ist eine neurologische Krankheit, die in der Regel nach acht bis zehn Jahren zum Tod führt. Sie führt zu Einbussen im Alltag und zu grossen Sorgen und Leiden des Betroffenen und seinen Angehörigen. Man kennt heute die typischen Symptome. Allen voran sind die Gedächtnisstörungen, die stärker sind als jene, die wir bekommen, weil wir älter werden. 

Wir alle verlegen ab und zu einen Schlüssel. Als gesunde Menschen haben wir Kompensationsstrategien. Wir denken nach und überlegen uns, wo der Schlüssel sein könnte. Diese Strategien fehlen dem Alzheimerpatienten. Er sucht und kommt immer mehr in einen Stress. Ein Alzheimerpatient weiss oft nicht mehr, was er vor wenigen Minuten erzählt hat. Es gibt nur sehr wenige Menschen mit Alzheimer, bei denen die Krankheit nicht mit Gedächtnisstörungen begonnen hat. Andere Demenzformen beginnen mit anderen Symptomen.


Cornelia Stolze

Keine Frage – Demenz ist ein Krankheitsbild, das für die Betroffenen und ihr Umfeld sehr belastend sein kann. In diesem Punkt stimme ich mit Frau Bopp absolut überein. Ich finde es aber wichtig, dass man die Öffentlichkeit ehrlich und ausgewogen über Demenz informiert. Es ist eine Tatsache, dass Demenz keine eigene Krankheit ist, sondern ein Zustand, der durch eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen entstehen kann. Und dass man diesen Ursachen und damit auch einer Demenz sehr effektiv bis in ein hohes Alter vorbeugen kann – und zwar durch regelmässige Bewegung, stabile soziale Kontakte und einen gesunden Lebensstil. Dafür gibt es sehr gute wissenschaftliche Belege.

Fest steht auch, dass vieles, was wie Demenz aussieht, in Wirklichkeit keine Demenz ist und dass sehr viele ältere Menschen fälschlicherweise die Diagnose Alzheimer oder Demenz erhalten. Tatsächlich können zahlreiche Erkrankungen sowie toxische Schädigungen eine Demenz vortäuschen oder demenzähnliche Symptome wie Gedächtnisstörungen, Verwirrtheit, Halluzinationen oder anderen Hirnleistungsstörungen auslösen.

Hinter einer vermeintlichen Demenz stecken häufig die Nebenwirkungen von Arzneimitteln.

Tatsächlich gibt es mehr als 130 Medikamente, die demenzähnliche Symptome hervorrufen können. Und das sind keine ausgefallenen Präparate, sondern massenhaft verordnete Blutdrucksenker, Magensäureblocker, Schmerzmittel, Cholesterinsenker oder Schlafmittel. All dies wird leider von Ärzten oft übersehen. Die Folgen sind fatal. Eine grosse wissenschaftliche Studie hat vor wenigen Jahren gezeigt, dass rund drei Viertel aller Demenz-Diagnosen falsch sind. Dadurch erhalten die Patienten nicht die richtige Therapie und leiden unnötig.

Auch behaupten viele Mediziner, an Demenz sei meist die Alzheimer-Krankheit schuld. Ich frage mich, wie man das guten Gewissens tun kann. Denn wer die wissenschaftliche Literatur kennt, weiss, dass es für die Existenz eines Hirnleidens namens Alzheimer weder zu Lebzeiten noch nach dem Tod einen verlässlichen Nachweis gibt. Zwar wird immer wieder behauptet, dass bestimmte Proteinablagerungen, sogenannte Plaques/Amyloide, dafür charakteristisch sind und für den geistigen Verfall verantwortlich sind. Aber seit längerem weiss man, dass rund ein Drittel aller normal alternden Menschen, die bis zu ihrem Tod völlig klar im Kopf waren und nach ihrem Tod obduziert wurden, so viele Plaques im Gehirn hatten, dass der Befund eindeutig Alzheimer gelautet hätte. Das passt nicht zusammen.

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Irene Bopp

Wenn es um die Plaques/Amyloid und den Zustand des Gehirns geht, muss ich Cornelia Stolze zum Teil Recht geben. Es gibt keinen Alzheimer, der nicht Amyloid im Hirn hat. Aber wenn jemand Amyloid im Hirn hat, heisst das nicht, dass er unbedingt symptomatisch krank sein muss. Für Alzheimer typisch ist eine Schrumpfung des Hirns. Dies sieht man im MRI.

Ich habe auch Fälle gesehen, bei denen nur eine leichte Schrumpfung zu sehen war. Ein geschrumpftes Hirn muss aber nicht unbedingt bedeuten, dass die Betroffenen Symptome der Alzheimererkrankung aufweisen. Wir verstehen wirklich einen Teil der Mechanismen nicht. Zu den Ursachen von Alzheimer wissen wir ebenfalls wenig. Wir alle haben Amyloid im Hirn, wenn wir älter werden. Wir wissen aber nicht, welche Faktoren uns vor Symptomen einer Alzheimerkrankheit schützen. Man weiss, dass in den Gehirnen von Betroffenen die kleinen Gefässe oft zusätzlich geschädigt sind. Deshalb ist alles potenziell schützend, was für das Herz und den Kreislauf gut ist. Alzheimer kann man aber damit nicht verhindern.

Ich finde es unfair, wenn Cornelia Stolze sagt: «Ihr müsst nur gesund leben, dann bekommt ihr keinen Alzheimer.» Richtig ist, dass Alzheimer jeden von uns treffen kann.

Wenn Frau Stolze sagt, Alzheimer sei ein erfundenes Konstrukt, ist dies ein Schlag ins Gesicht jener Menschen, die daran leiden.

Sie hat aber Recht, wenn sie sagt, dass die Forschung immer noch im Dunkeln tappt. Auch ich finde es deprimierend, dass über 100 Jahre nach Alois Alzheimer in diesem Bereich der Durchbruch immer noch nicht geschafft ist.


Cornelia Stolze

Das ist auch kein Wunder. Denn durch die Fixiertheit auf Alzheimer erkennen viele Forscher nicht die wahren Auslöser der Beschwerden bei den einzelnen Patienten. Neben Medikamenten können das so unterschiedliche Ursachen wie etwa die Folgen einer Operation mit Vollnarkose, Schilddrüsenunterfunktion, unbemerkte Schlaganfälle, Hirnverletzungen und Hirnblutungen, erhöhter Hirndruck oder aber scheinbar banale Ursachen wie Flüssigkeits-, Natrium- oder Vitamin B12-Mangel sein. Wenn man all das in einen Topf wirft und mit dem Etikett «Alzheimer» versieht, kommt man in der Forschung natürlich nicht weiter. Das erklärt auch, warum alle Pharmafirmen, die an der Entwicklung eines wirksamen Mittels gegen Demenz arbeiten, seit Jahrzehnten einen Rückschlag nach dem erleiden.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Irene Bopp

Die Leute kommen zu uns in die Memory Clinic, weil sie als Betroffene oder Angehörige Defizite wahrnehmen. Die Alzheimer-Diagnose funktioniert wie ein Puzzle. Wenn ein 90-Jähriger Gedächtnisverlust hat und zu Hause gut funktioniert, muss eine Diagnosestellung nicht forciert werden. Entscheidend ist, wie störend die Symptome sind. Wir hören uns an, was die Angehörigen, der Arbeitgeber und das Umfeld über den Betroffenen sagen. Dann kommt die klinische Untersuchung.

Ein Mensch mit Alzheimer hat zu Beginn der Erkrankung meist keine körperlichen Beschwerden.

Das Labor gehört in jede Standard-Untersuchung. Eine Unterfunktion der Schilddrüsen kann beispielsweise Beschwerden verursachen, die ähnlich sind wie Symptome einer Alzheimererkrankung. Wir finden bei 10 bis 20 Prozent der Abklärungen im Frühstadium eine Ursache, die zumindest zum Teil behandelbar ist.

Frau Stolze schreibt in einem Artikel über den Hydrocephalus, dass dieser irrtümlich als Alzheimer diagnostiziert werde. Die Symptome eines Hydrocephalus unterscheiden sich wesentlich von denjenigen einer Alzheimerdemenz. Wir erkennen dank Bildgebung und breiter klinischer Untersuchung auch Hirntumore, Stoffwechsel- oder Durchblutungsstörungen, die wir bis zu einem gewissen Mass beeinflussen können. 

Ein wichtiges Puzzleteil in der Diagnostik ist die Bildgebung. Sie ist für uns sehr wichtig, weil wir so eine Schrumpfung oder eine Hirnblutung erkennen können, aber auch den Hydrocephalus und Tumore. Bei einzelnen Patienten führen wir zusätzlich eine PET-Untersuchung (Positronen-Emissions-Tomografie) durch, dies im Besonderen bei jüngeren Betroffen, die noch im Berufsleben stehen. Bei den jungen Patienten brauchen wir mehr Sicherheit – auch wegen der Versicherung und der persönlichen Situation tiefster Verunsicherung. 

Durch die Untersuchung der Hirnflüssigkeit kann einerseits eine Entzündung ausgeschlossen werden, anderseits ist es heute auch möglich, Marker zu bestimmen (Amyloid und Tau), die uns zusätzlich eine diagnostische Sicherheit geben. Äusserst wichtig ist zudem die neuropsychologische Untersuchung. Die Resultate werden immer damit verglichen, ob jemand bei gleichem Alter und gleicher Ausbildung besser oder schlechter abschneidet als andere. Diese Untersuchung ist ein wichtiger Puzzlestein in der Diagnostik, aber auch Grundlage für eine individuelle Beratung.

Die Anamnese ist das wichtigste Puzzleteil. Wir fragen den Betroffenen und sein Umfeld, was im Alltag und auf der Beziehungsebene passiert. Depressionen sind häufig Begleiterscheinungen einer Demenz. Eine Depression kann aber auch zu einer Einbusse der Hirnleistung führen. Die Differentialdiagnose zwischen Depression und Demenz ist im Frühstadium nicht einfach, eine Abklärung in einer Memory Clinic bringt da oft Klarheit. 

Die Sicherheit der Diagnosestellung liegt bei 90 bis 95 Prozent.

Dies gilt sowohl bei der Alzheimerdemenz wie auch bei anderen Formen von Demenz. Im Frühstadium ist eine Diagnosestellung oft schwieriger, weswegen in solchen Fällen der weitere Verlauf abgewartet werden muss.

Cornelia Stolze

Wie Frau Bopp richtig sagt, gibt es keinen einzigen Test, mit dem man Alzheimer sicher nachweisen kann. Die Diagnose funktioniert in Wirklichkeit allerdings weniger wie ein Puzzle. Vielmehr gilt noch immer das Ausschluss-Prinzip: Wenn der Arzt nichts findet, was in seinen Augen erklärt, warum der Patient verwirrt ist, dann muss es wohl Alzheimer sein. Das heisst umgekehrt: Es kann auch alles Mögliche andere sein, woran bei der Diagnostik nicht gedacht wurde. Dass es zu Verwechslungen kommt, ist keine Erfindung von mir.» Belege dafür findet man zuhauf in der wissenschaftlichen Literatur. Studien haben auch gezeigt, dass ein Grossteil aller Menschen mit der Diagnose Alzheimer oder Demenz nie von einem Spezialisten, also einem Facharzt für Neurologie, untersucht wurden.

Fast immer wird die Diagnose vom Hausarzt gestellt. Da werden dann ein oder zwei kurze neuropsychologische Tests gemacht. Schneidet der Patient darin schlecht ab, heisst es ganz schnell: Der ist dement. Ich halte diese Tests für sehr problematisch.

Viele Menschen setzt ein solcher Test unter Stress.

Sie fühlen sich nicht nur wie in einer Prüfungssituation. Sie spüren auch, dass davon ihr weiteres Schicksal abhängt. Und zwar umso mehr, wenn sie ohnehin körperlich schwach, verunsichert und voller Sorgen sind. Stress aber hemmt die Informationsverarbeitung im Gehirn und blockiert so das Denken und das Gedächtnis. Zudem sagt ein «schlechtes» Testergebnis herzlich wenig aus.

In der Tat würden viele Menschen bei solchen Tests schlecht abschneiden. Sei es, weil sie gerade unter dem Einfluss starker Beruhigungs- oder Schmerzmittel stehen. Sei es, weil sie schlecht hören und Hörgerät nicht angelegt haben. Sei es, weil sie kurz Zeit vorher einen geliebten Menschen verloren haben und allein deshalb völlig durcheinander sind. In all diesen Fällen wird der Test ein schlechtes Ergebnis liefern. Doch für den Arzt sind solche Tests praktisch, denn sie sparen Zeit. Einige der Verfahren beanspruchen gerade sieben bis zehn Minuten, um zu einem Ergebnis zu kommen. Auf dieser Basis eine Demenz-Diagnose zu stellen, ist unverantwortlich. Schon allein deshalb, weil eine Demenz per Definition erst dann diagnostiziert werden darf, wenn mehrere charakteristische Symptome mindestens sechs Monate lang bestanden haben. Die Öffentlichkeit müsste viel mehr darüber aufgeklärt werden:

Demenz ist häufig Folge von Schlaganfällen, Hirnverletzungen und Medikamenten-Nebenwirkungen.


Irene Bopp 

Wie schon gesagt: Es gibt neben der Alzheimerdemenz unzählige Ursachen, die zu einer Verschlechterung der Hirnfunktion oder einer Demenz führen. Alzheimerdemenz ist die häufigste Ursache der Demenz (zirka 50 Prozent), gefolgt von vaskulären Demenzen (gefässbedingten Demenzen), Lewy-Body-Demenz und frontalen Demenzformen (Stirnhirndemenz). Die sogenannt sekundären Demenzformen, wie sie Frau Stolze beschreibt, machen etwa zehn Prozent der Demenzen aus. All die Medikamente, die Frau Stolze aufzählt, können teils sogar das Risiko einer Demenz reduzieren, so die Blutdrucksenkenden und Cholesterinsenkenden Medikamente, weil sie das Risiko für die gefässbedingten Demenzen reduzieren. Sie müssen aber gut kontrolliert und richtig eingesetzt werden. Es gibt Medikamente, die die Hirnfunktion verschlechtern, so die Benzodiazepine und andere Psychopharmaka. Auch Betablocker können zu einer gewissen Verlangsamung führen. Dennoch sind sie nie alleine verantwortlich für eine Demenz: Demenz bedeutet eine zunehmende Abnahme der Hirnleistung, die zu einer Abnahme der Alltagsfunktionen führt.

Am wichtigsten ist aber, dass der Mensch mit Demenz ernst genommen wird. Damit kann Stress reduziert werden. Bei der Übermittlung der Diagnose ist Klarheit gefragt, was sowohl für die Betroffenen wie aber auch für die Angehörigen oft zu Erleichterung führt. Endlich wird den Symptomen ein Name gegeben, nach einer langen Zeit der Verunsicherung.

Eine Studie besagt, dass Coaching der Angehörigen der wichtigste modulierende Faktor sei.

Es ist wichtig, dass man mit Menschen mit Alzheimer validierend und nicht defizitorientiert umgeht. Wenn der Betroffene Stress hat, ist das schlecht für sein Hirn.


Cornelia Stolze

Ich finde, Ärzte sollten jeden Patienten mit seinen Beschwerden und Sorgen ernst nehmen, ganz gleich, woran dieser leidet und ob er 40, 60 oder 95 Jahre alt ist. Richtig ist auch, dass gerade bei verwirrten älteren Menschen viel von den Angehörigen abhängt. Deshalb bin ich sehr dafür, sie zu unterstützen. Die Realität sieht aber anders aus.

Statt psychologischer und praktischer Hilfe werden häufig einfach Medikamente verschrieben.

Das ist einfach, geht schnell und ist bequem. Auch für den Arzt. Aus meiner Sicht ist das aber unseriös. Denn in der Leitlinie Demenz kann man nachlesen: Kein einziges der auf dem Markt befindlichen Präparate gegen Alzheimer kann das Fortschreiten der Demenz verzögern. Diese Medikamente wurden aufgrund von Studien zugelassen, bei denen getrickst wurde. Ergebnisse wurden verzerrt, damit der Eindruck entsteht, dass die Medikamente nützlich seien, weil die Studien von der Pharmaindustrie finanziert wurden. Längst hat sich übrigens gezeigt, dass die Mittel mehr schaden als nützen. In Frankreich hat man aus diesem Grund kürzlich beschlossen, diese Präparate künftig nicht mehr von den Krankenkassen erstatten zu lassen.

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Irene Bopp

Die Medikamente sind für mich sekundär, da sie palliativ eingesetzt werden. Wenn mich Betroffene oder Angehörige nach Medikamenten gegen Alzheimer fragen, sage ich: «Nein, es gibt keine Heilung, aber sie können lindern.» Oder: «Ich weiss nicht, ob sie bei ihnen wirken. Aber möglicherweise könnten sie dafür sorgen, dass ihr Alltag etwas positiver verläuft in den nächsten Jahren.» Ich hatte einen Patienten, der dank den Medikamenten wieder Schuhe binden und Knöpfe zumachen konnte. 

Das Alzheimer-Medikament Memantin hilft oft sehr gut bei Verhaltensauffälligkeiten und sorgt dafür, dass keine oder weniger Psychopharmaka verabreicht werden müssen. 

Wenn Frau Stolze sagt, die Alzheimer-Medikamente seien ein grosses Geschäft, irrt sie sich.

Sie sind wie eine Krücke, die gewisse Linderung verschafft. Die Medikamente sind nicht teuer, und niemand wird behaupten, dass sie Alzheimer heilen könnten. Studien zeigen auf, dass dank solcher Medikamente der Eintritt ins Heim ein bis eineinhalb Jahre verzögert werden kann. Damit kann sogar Geld gespart werden.


Cornelia Stolze

Richtig ist, dass bei allen Medikamenten, die zur Behandlung von Alzheimer zugelassen sind, vor wenigen Jahren der Patentschutz ausgelaufen ist. Seither gibt es Nachahmerpräparate, die billiger sind. Das heisst aber noch lange nicht, dass man mit der Verordnung dieser Mittel Geld sparen könnte.

Es stimmt nicht, dass diese Pillen den Eintritt ins Heim verzögern können.

Das ist ein Märchen, das die Industrie den Ärzten seit Jahren erzählt und für das es keine soliden wissenschaftlichen Belege gibt. Schlimmer aber finde ich, dass diese Mittel viele Mediziner – häufig unbewusst – dazu verleiten, ältere Menschen mit Demenz-Symptomen nicht gründlich genug zu untersuchen und sie vorschnell als alzheimerkrank zu deklarieren. Das ist in meinen Augen ein Kunstfehler. Denn auch und gerade bei Demenz-Symptomen ist das A und O, die Ursache so schnell wie möglich zu finden und rasch und gezielt zu behandeln. Dann lassen sich die Symptome nämlich oft komplett beheben.

Ein Beispiel dafür sind Natrium-Mangel oder aber die Nebenwirkungen von Medikamenten. Viele verwirrte ältere Menschen werden wieder geistig vollkommen klar, wenn man ihren Elektrolyt-Haushalt wieder ins Gleichgewicht bringt oder wenn sie bestimmte Schmerzmittel, Cholesterinsenker oder Psychopharmaka absetzen oder durch andere, besser verträgliche Mittel ersetzen. Das erspart ihnen nicht nur den Umzug ins Pflegeheim und damit enorme Kosten. Das ist es doch, worum es in der Medizin gehen sollte: kranken Menschen wieder neue Lebensqualität und wertvolle zusätzliche Lebensjahre zu schenken.


Irene Bopp 

Was Frau Stolze beschreibt, ist nichts anderes als Standard, der zu jeder Abklärung einer Demenzerkrankung gehört. Eine Natriumbestimmung gehört beispielsweise zu jeder Abklärung, das wissen auch unsere Grundversorger. Ein Natriummangel führt normalerweise zu einer raschen Verschlechterung der Hirnleistung und äussert sich anders als eine Alzheimerdemenz. Auch eine Über- oder Unterfunktion der Schilddrüse, ein Vitamin-B12-Mangel, eine Überfunktion der Nebenschilddrüse können demenzähnliche Symptome verursachen.

Und dennoch: In der Schweiz leben über 140‘000 Menschen mit Demenz. Mindestens die Hälfte dieser Menschen leiden an einer Alzheimerdemenz. Diese Menschen sollen Teil unserer Gesellschaft bleiben und müssen ernst genommen werden!

Diese Menschen haben das Recht, gut abgeklärt zu werden, damit es nicht zu Fehldiagnosen kommt.

Wenn die Diagnose einer Alzheimerdemenz gestellt wird, dürfen sie nicht stigmatisiert werden oder den Vorwurf bekommen, dass ein anderer Lebensstil eine Demenz verhindert hätte. Das würde die Stigmatisierung noch verstärken.

Demenz tritt schicksalshaft ins Leben von vielen Menschen. Die Demenz betrifft genau die Punkte, die in unserer Gesellschaft so wichtig sind: unsere Hirnleistung, unsere Effizienz, unsere Schnelligkeit. Der Sinn des Lebens darf nie nur allein durch die Hirnleistung definiert werden. Viel wichtiger als alle Polemisierung ist der behutsame Umgang von uns allen mit den Betroffenen und ihren Angehörigen. Sie wollen ernst genommen und nicht verunsichert werden. Sie brauchen keine Besserwisserei und Ratschläge. Sie wünschen sich einfach ein Umfeld, das sie versteht, ihnen beisteht und sie unterstützt – gerade dann, wenn sie nicht mehr weiterwissen und an die Grenzen ihrer Belastung kommen.


Literatur

Cornelia Stolze: «Vergiss Alzheimer», die Wahrheit über eine Krankheit die keine ist.
Cornelia Stolze: «Verdacht Demenz», Fehldiagnosen verhindern, Ursachen klären – und wieder gesund werden.
Irene Bopp-Kistler: «demenz. – Fakten, Geschichten, Perspektiven»
Irene Bopp-Kistler u.a. : «Da und doch so fern – Vom liebevollen Umgang mit Demenzkranken»