Das «Wort mit D» will so manchem Arzt nicht über die Lippen. Dabei ist eine klare Diagnose zentral, damit sich der Betroffene auf die Zukunft einstellen kann.
Véronique Hoegger
Seit über zwei Jahrzehnten berät Dr. Irene Bopp-Kistler Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Die Geriaterin weiß, wie wichtig eine gute Diagnoseübermittlung ist. Sie legt das Fundament für alles, was folgt. Leider ist das längst nicht allen Ärzten klar.
Fünfundzwanzig Jahre lang hat Dr. Irene Bopp-Kistler Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen begleitet – auf dem Weg zur Diagnose und darüber hinaus. Obwohl sie pensioniert ist, unterstützt sie Ratsuchende noch immer in der Memory Clinic des Waidspitals Zürich und in einer mediX Gruppenpraxis. Sie erklärt, warum eine Diagnose wichtig ist und worauf es bei der Übermittlung ankommt.
»Sie haben Demenz.« Sobald Irene Bopp-Kistler das gesagt hat, wartet sie erst einmal. Raum geben und die Stille aushalten. Das ist schwer. Doch das Abwarten einer Reaktion durch den Betroffenen oder die Angehörige ist essenziell. Zuerst kommt das, was sich über lange Zeit angestaut hat: »Das habe ich mir gedacht.«, »Ich habe solche Angst!«, »Endlich weiß ich, was mein Mann hat«. »Wenn Sie das sagen« ist auch eine mögliche Antwort. Vielen Betroffenen fehlt die Krankheitseinsicht.
»Eine Demenzerkrankung beginnt mit Konflikten«, so Irene Bopp-Kistler. Das Vergessen ist nicht das Hauptproblem, zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Viel belastender ist die psychische Veränderung, für die es lange keine Erklärung gibt. Burnout, Depression, Krankschreibung, stationäre Aufenthalte, Streit in der Familie – Menschen mit Demenz haben oft einen Marathon hinter sich, bis sie wissen, was los ist.
Die Diagnose gibt dem Diffusen endlich einen Namen. Das entlastet.
»Nach dem Schock der Diagnose Alzheimer im Jahr 2011 musste ich erst einmal darüber nachdenken, was das wirklich heißt, und zwar für mich, meine Familie und meine weitere Zukunft ebenso. Seither ist viel Zeit vergangen, und ich habe mir eigentlich nicht ausgemalt, was das nun wirklich bedeutet, beziehungsweise was noch auf mich zukommt. Zunächst fiel eine große Last weg, die während meiner Arbeit auf mir gelastet hatte; es war ein wahrer Koloss.« (aus Bopp-Kistler: demenz)
Ist dieser Koloss erst einmal fort, kann man an die Zukunft denken: »Was können wir jetzt tun, da wir Klarheit haben?«. Wer informiert ist, kann Entscheidungen treffen: die Finanzen regeln, Entlastungsstrukturen schaffen, Patientenverfügung und Vorsorgeauftrag verfassen. Deshalb ist das Diagnosegespräch so wichtig.
Dennoch sind Ärzt:innen kaum geschult, wie sie eine solche Diagnose vermitteln sollen – anders als in der Onkologie. Sie befürchten, die Diagnose könne ihre Beziehung zum Patienten belasten oder dessen Psyche negativ beeinflussen, und sind mit der Dynamik des Gesprächs überfordert. Supervision und interdisziplinärer Austausch? Fehlanzeige. Rund zwei Drittel der Ärzt:innen vermitteln die Diagnose daher nebenbei, mitunter kaschiert als »vermehrte Vergesslichkeit« oder »Hirnleistungsstörung«.
Das Wort »Demenz« wird nicht gern in den Mund genommen, wie auch der Fall Bruce Willis zeigt. Tagelang hieß es, er vergesse Texte, er habe eine Aphasie. »Niemand spricht es aus«, sagt Bopp-Kistler. Jetzt wissen wir: Bruce Willis hat eine Demenz.
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Dabei zeigen Studien,dass die harte Wahrheit Angst und Depressivität bei Patient:innen nicht verstärkt, sondern sogar reduziert. Ohnehin ahnen zwei Drittel der Angehörigen und ein Viertel der Betroffenen die Diagnose schon. Eine frühe Diagnose hilft, therapeutische Maßnahmen einzuleiten und insgesamt besser mit der Krankheit umzugehen.
Wie also verläuft ein gutes Diagnosegespräch?
Vor der Abklärung muss geklärt sein, welche der involvierten Stellen (Memory Klinik, Hausärztin, etc.) was kommuniziert. Geht es dann an die Übermittlung der Diagnose, müssen mehrere Aspekte beachtet werden:
»Ich beginne das Gespräch nicht gleich mit der Diagnose, sondern baue eine Beziehung auf«, erklärt Bopp-Kistler. Das schafft das nötige Vertrauensverhältnis, damit das Gegenüber sich auf die schlechte Nachricht einlassen kann.
Die Diagnose selbst vermittelt Bopp-Kistler klar, ohne Umschreibung und ohne Fachjargon. Informationen wie »Ihr Amyloid ist positiv« verwirren nur, und der Patient verlässt die Sprechstunde, ohne verstanden zu haben, was er gehört hat.
»Ärzte reden zu viel«, bemängelt Bopp-Kistler. Die Zufriedenheit des Patienten im Gespräch hängt direkt mit der Länge der eigenen Redezeit zusammen.
Fachliche Erklärungen zu Werten und verwirrenden MRI-Bildern hingegen verdrängen den Raum für Reaktionen und Gefühle. Verständnisvoll auf Emotionen reagieren, nachfragen, spiegeln, transparent über die Situation sprechen und die Symptome einordnen ist viel wichtiger.
Mit dem Zeigen von Hirnscans ist Bopp-Kistler zurückhaltend. »Bildgebung kann viel auslösen. Die Person sieht das Bild und denkt sich: ›Das ist der Grund, warum mein Gehirn nicht funktioniert‹. Sie fühlt sich darauf reduziert.« Wie viel soll man denn zeigen? »Ich vermittle den Betroffenen nur das, was sie wissen wollen.«
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Im Schnitt dauert ein Diagnosegespräch 28 Minuten. Bopp-Kistler nimmt sich eine Stunde Zeit, doch selbst die ist oft zu wenig. Deshalb empfiehlt sie in fast allen Fällen mindestens einen Nachfolgetermin. »Wir müssen das Licht sein«, sagt sie, »damit sich diese Menschen nicht alleingelassen fühlen«. Jetzt, wo die Diagnose steht, geht es an die Zukunftsplanung, und das gibt Hoffnung.
Der primäre Ansprechpartner ist immer der Patient. Sätze wie »Ihr Mann hat Alzheimer« sind tabu. Im gesamten Prozess dennoch wichtig ist der Einbezug der Angehörigen. Fast alle Betroffenen wünschen sich, die Diagnose in deren Beisein zu empfangen.
Zum Diagnosegespräch gehört auch das Aushalten von Reaktionen, die auf den ersten Blick schockieren mögen.
Was tun bei Sätzen wie »Demenz? Dann gehe ich mit Exit.« oder »Ich bin Witwe, obwohl mein Mann noch lebt.«? Nicht argumentieren, rät Bopp-Kistler. Stattdessen: sich einlassen auf die Ausnahmesituation.
Demenz ist nicht heilbar und nimmt dem Betroffenen das, worauf unser Selbstverständnis fusst: die Kognition. Die Diagnose zu erhalten kann sich demnach anfühlen »wie ein Filmriss«. Destruktive Gedanken können ein Hilferuf sein, ein Ausdruck der Angst vor Stigmatisierung, dem Verschwinden der Persönlichkeit und wegbrechender Lebensqualität.
»Ich möchte dann herausfinden, was in dieser Person vorgeht«, erklärt Bopp-Kistler. »Einmal nach nirgendwo«, so die Reaktion eines Betroffenen, der in ihrer Sprechstunde saß. Darum geht es: begreifen und belastende Themen und Gefühle ansprechen.
Dies nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch bei den Angehörigen. »Die Angehörigen befinden sich in einer Grauzone zwischen Arbeit, Haushalt, Betreuung und Finanzierung. Sie brauchen nicht nur Entlastung, sie wollen verstanden werden.« Scham, Sexualität, der Wunsch nach einer neuen Beziehung, finanzielle Not – all das braucht Platz.
Die Aufgabe der Ärztin ist es, Betroffene und Angehörige auf dem Weg ins Ungewisse zu begleiten. Zusammen mit ihnen prüft sie Optionen bei der Alltagsgestaltung (Angebote, Partizipation), vernetzt, klärt die finanzielle und versicherungstechnische Situation und berät in Bezug auf Kommunikation (Validation) und ganzheitliche Therapiemöglichkeiten. »Es ist eine Gratwanderung«, sagt Bopp-Kistler, »die wir alle gemeinsam gehen.«
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