alzheimer.ch: Herr Karstein, wie hat Ihr Leben vor der Diagnose ausgeschaut?
Beat Karstein*: Schön! Unser Sohn studierte Architektur in Genf und Santiago. Alles war gut. Ich war Installateur für Gebäudetechnik und hatte einen kleinen Betrieb. Aber mit dem Herzen war ich Künstler.
Welche Kunst war es denn, die Ihnen am Herzen lag?
Schon als Kind habe ich geschnitzt. Auch später arbeitete ich mit Holz, ebenso mit Metall und Wachs. Als ich 42 wurde, dachte ich: jetzt oder nie. Wenn ich noch ernsthaft als Künstler wirken möchte, sollte ich nicht länger warten.
Klingt mutig. Sie sind offenbar ein unternehmungslustiger Typ?
Ja, eigentlich ja, fröhlich auch. Aber manchmal auch tiefgründig. Das ist normal, oder? Jedenfalls: Holzskulpturen faszinierten mich.
Und Ihre Frau, teilt sie Ihre Leidenschaft für die Kunst?
Sie unterstützt mich. Aber sonst arbeitet sie als Heilpraktikerin.
Wann merkten Sie zum ersten Mal, dass Sie nicht mehr so perfekt funktionierten wie früher?
Erste Anzeichen? Da gabs ein schwieriges Projekt. Neue Sanitärtechnik in einem Mehrfamilienhaus. Dann schimpfte eine Kundin, wie langsam ich sei. Und die Rechnung stimme nicht. Ja, ich hätte besser rechnen müssen.
Aber die hätte das doch gar nicht verstanden, die war doch selbst saftig dement.
Eveline Karstein: Beat hatte immer höchste Ansprüche an seine Präzision, und nun auf einmal Mühe mit simplem Kopfrechnen. Er musste das Projekt schliesslich abgeben.
Wann spürten Sie, dass es Ihrem Mann schwerfiel, sich zurechtzufinden?
Eveline: Im Winter 2016 lag sein Vater im Sterben. Beat konnte nichts anderes mehr denken, er drehte sich elend im Kreis, das ging monatelang über die normale Belastung hinaus. Ich dachte: Was ist bloss los mit ihm?
Beat: Ich dachte, ich bin nur übermüdet. Ging zu meinem Hausarzt, der Mangel an Vitamin B12 diagnostizierte. Er sagte: Wir spritzen das, in drei Monaten bist du wieder fit.
Eveline: Das muss man sich mal vorstellen. Nach drei Monaten war es noch schlimmer. Der hatte eine Fehldiagnose gestellt!
Beat: Hinzu kam, ich hatte im selben Winter eine aggressive Grippe, mir gings so schlecht, dass wir ins Spital mussten. Dort fragte mich ein Arzt hektisch aus: Name, Geburtsdatum, Geburtsort. Der bellte mich so zackig an. Ich dachte, fuck you! Und wusste keine Antworten mehr.
Eveline: Im Sommer 2017 gingen wir deshalb zur Abklärung in die Memory Klinik nach Zürich. Zwei Monate später hatten wir Gewissheit: Beat hat Alzheimer.
Wie ging es Ihnen danach?
Beat: Ganz übel. Die teilten uns das so unsensibel mit, als wäre es die normalste Sache der Welt. Ein Husten oder so. Ich war im Schockzustand. Hab’ viel geweint.
Eveline: Zuerst habe ich das akzeptieren können. Endlich wussten wir wenigstens Bescheid.
Bei mir kam der Zusammenbruch später. Und seither immer wieder.
Beat, wenn wir miteinander sprechen, machen Ihnen die Fragen Mühe?
Beat: Ich merke, dass mir Worte fehlen. Alles geschieht jetzt viel langsamer. Ich vergesse schnell. Wenn ich einen Rucksack packe, brauche ich eine Liste und kontrolliere x-mal, ob ich alles habe. Orange, Messer, Regenschutz…
Wem haben Sie von der Diagnose erzählt?
Beat: Nicht vielen. Unserem Sohn, wenigen guten Freunden und den engsten Familienmitgliedern. Die behalten das alle für sich.
Warum dürfen die es nicht weitererzählen?
Beat: Das ist eine bilaterale Sache. Wer mir nicht nah´ steht, dem möchte ich das nicht erzählen. Ich bin dann Müll. Man nimmt mich nicht mehr ernst, das ist weit verbreitet. Wer es weiss, redet nicht mehr mit mir. Ich werde für unmündig gehalten.
Das ist zwar kein Unfall, was ich habe, aber ein verfrühtes Todesurteil.
Beat: Ich glaube nicht. Gibt ja immer wieder Leute, die die Geldbörse hinstrecken, damit ihnen geholfen wird. Und dabei sagen, «Ich habe meine Brille vergessen».
Eveline: Mein Mann hat Angst, als Depp abgestempelt zu werden. Einem Nachbarn habe ich es jetzt erzählt, mit Beats Einverständnis. Das brauchte echt Überzeugungsarbeit. Erst sagte Beat rigoros nein!, später lenkte er ein. Weil er merkte, dass es mir wichtig ist. Ich finde es besser, wenn Offenheit herrscht.
Wie reagieren die, die es wissen?
Das sind die ganz nahen Freunde meines Mannes, die reagieren sehr positiv und warmherzig. Nur einer kann es nicht nachvollziehen und zieht sich zurück.
Hat die Diagnose Ihre Beziehung verändert?
Beat: Ja schon. Wir sind enger geworden. Ich bin mehr von Eveline abhängig, ich brauche sie.
Wobei zum Beispiel?
(Beat überlegt…) Eveline: Bei allem. Wenn er einkauft, muss ich eine Liste schreiben, er geht immer in denselben kleinen Laden und kauft die gleichen Produkte. Das geht. Ein grosser Laden oder neue Produkte, das wäre schwierig.
Zu Hause räume ich die Sachen weg. Ich bitte ihn, den Tisch zu decken, er braucht für alles Aufforderung und Anleitung. Manchmal denke ich, dann kann ich es gleich selbst machen.
Sind Sie genervt, gibt es Streit?
Eveline: Nein, das ist es nicht. Wir haben eine nahe, liebevolle Beziehung. Darauf achten wir beide.
Beat ist zum Glück ein offener Typ und verleugnet die Krankheit nicht vor sich und mir. Das hilft mir.
Zum Beispiel?
Eveline: Heute Morgen hatte er Rückenschmerzen, ich sagte, geh in den Vierfüsslerstand, das verstand er nicht. Ich machte es vor. Dann sollte er Katzenbuckel und Hohlrücken machen, das verstand er auch nicht. Ich wiederholte es, sagte es mit anderen Worten und dann ging es.
Dennoch, wer es nicht weiss, merkt es ihm nicht gleich an …
Eveline: Doch wer ihn kennt, spürt, dass er sich verändert hat. Er war immer besonnen, überlegte, bevor er sprach. Nicht wie ich, die oft mit etwas rausplatzt, impulsiv ist und versehentlich Gläser umkippt oder mal einen Teller runterschmeisst. Jetzt kippt er Gläser um.
Ziehen Sie beide sich wegen der Krankheit zurück?
Beat: Vielleicht ja, da müssen wir aufpassen. Ich bin von Eveline mehr als früher abhängig. Sie liest gern, taucht ein in eine andere Welt. Lesen geht bei mir nur noch sehr langsam.
Eveline: Wir sind beide gern zu Hause und hatten nie viel Besuch. Das ist jetzt noch weniger geworden. Unser Sohn sagt, das sei ein Fehler. Wir müssten mehr Menschen zu Hause um uns haben.
Ich bin aber geprägt von meiner Kindheit: Wenn Besuch kommt, muss das Haus geputzt und das Drei-Gänge-Menü zubereitet sein. Da kann ich nicht aus meiner Haut. Die Arbeit hängt jetzt allein an mir, das wird mir zu viel.