Die Tagesdosen für gängige Psychopharmaka stiegen nach Recherchen der Wissenschaftsjournalistin Cornelia Stolze in den Jahren 2000 bis 2009 auf 47 Millionen an – ein Zuwachs von 780 Prozent.* Zu den Psychopharmaka zählen, neben Antidepressiva unter anderem Neuroleptika und Demenzmittel, sogenannte Antidementiva.
Bekannt ist: Zahlreiche dieser Medikamente werden aufgrund ihres erhofften oder tatsächlichen Wirkspektrums auch ausserhalb ihrer offiziellen Zulassung eingesetzt. So kommen beispielsweise Trizyklika auch zur Behandlung von chronischen Neuropathien bei Diabetes mellitus oder Neuroleptika gegen Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen einer Demenz zum Einsatz.
Dabei werden diese Medikamente häufig nicht einmal von einem Facharzt verordnet, weiss Chefarzt Dr. Bernd Meißnest von der Abteilung Gerontopsychiatrie am Klinikum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Gütersloh.
«Immer wieder gibt es abenteuerliche Medikamentenverordnungen», sagt auch der Gerontologe Eckehard Schlauß am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH), Berlin-Lichtenberg.
«Wir haben immer wieder den Fall, dass Patienten zum Beispiel mit einer Lewy-Body-Demenz den Wirkstoff Risperidon einnehmen, obwohl er für diese Diagnose kontraindiziert ist.»
Drei Viertel der Patienten haben eine falsche Diagnose
Das Ergebnis einer 2009 veröffentlichten Studie deutscher und österreichischer Forscher ist kaum zu glauben: «Nicht einmal jeder vierte Patient, bei dem der Hausarzt während des Zeitraums der Studie (3 Jahre) eine Demenz diagnostizierte, war bei genauerer Prüfung wirklich dement», so Stolze 2011 in ihrem Buch «Vergiss Alzheimer».
«Die meisten waren einfach nur gebrechlich oder schwerhörig, depressiv oder fanden, dass ihr Gedächtnis nachgelassen habe.» Das ist auch Thema ihres aktuellen Buches «Verdacht Demenz».
Dass Psychopharmaka in Kombination mit anderen Medikamenten, zum Beispiel zur Behandlung von Bluthochdruck oder Rheuma, gefährliche Interaktionen eingehen und das Sturzrisiko durch Schwindelsymptome deutlich erhöhen können, ist spätestens seit Veröffentlichung der ersten Aktualisierung «Expertenstandard Sturzprophylaxe» hinreichend bekannt.1
«Im Alter kommt hinzu, dass die Verstoffwechselung von Medikamenten durch das Nachlassen der Leber- und Nierenleistung deutlich reduziert ist», sagt Meißnest gegenüber der Autorin. Dennoch würden häufig keine Unterschiede in der Dosierung gemacht. Werden mehrere Grunderkrankungen medikamentös behandelt, steigen auch die Risiken durch unerwünschte Wechselwirkungen deutlich.
Auch Psychopharmaka können Demenz-Symptome auslösen
Eine medikamentöse Therapie gegen Depressionen kann daher vorschnell zu einer Fehldiagnose «Demenz» führen. Wie Cornelia Stolze in ihrem 2011 veröffentlichten Buch «Vergiss Alzheimer» berichtet, gibt es rund 136 Medikamente, die demenzähnliche Symptome hervorrufen können.
Die US-Verbraucherschutzorganisation Public Citizen hat im Jahr 2009 eine Liste dieser Arzneimittel erstellt. Dort genannt werden, neben gängigen Antidepressiva und Benzodiazepinen, auch Antirheumatika, Opiate und Parkinsonmittel.
«Für eine irrtümliche Demenz-Diagnose bedarf es nicht einmal konkreter Symptome. Manchmal genügt es, dass der Patient zurückgezogen lebt oder schlecht hört.»
Auch ein Ortswechsel, sei es ins Krankenhaus oder durch einen Umzug in ein Heim, sei für Ältere und Kranke eine enorme Belastung und könne Orientierungsstörungen auslösen, sagt Stolze.
Durch einen Ortsveränderung würden oft die letzten Reserven für eine stabile Orientierung aufgebraucht, die Betroffene in ihrer Wohnung zuvor noch herstellen konnten, sagt Professor Dr. Albert Diefenbacher, Chefarzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am KEH Berlin.
Besonders einschneidend ist die Diagnose «Demenz vom Alzheimertyp». Obwohl bis heute weder eine klare Abgrenzung zu anderen Demenzformen, noch ein gesichertes Diagnoseverfahren existieren, «blühen die Geschäfte mit der Angst der Menschen», konstatiert Stolze im Interview.
Der Therapieerfolg der zur Behandlung von Alzheimer zugelassenen Medikamente ist bis heute umstritten und deren Nutzen im Hinblick auf den Erhalt der Lebensqualität ist nicht erwiesen.
Mehrere Studien hätten sogar gezeigt: Die Sterblichkeit unter Einnahme von Cholinesterase-Hemmern, ein zur Behandlung der «Alzheimer-Krankheit» zugelassenes Arzneimittel, sei zum Teil bis auf das Dreifache erhöht.
Die Konsequenzen einer falschen Alzheimer-Diagnose für den Betroffenen sind fatal: Die Nebenwirkungen der Alzheimer-Medikamente Memantin und Cholinesterase-Hemmer rufen häufig gerade jene Symptome hervor, die als charakteristisch für die «Alzheimer-Krankheit» gelten, wie Erregungs- oder Angstzustände, Reizbarkeit oder Apathie.
Die Nebenwirkungen der Alzheimer-Medikamente können von Arzt und Pflegepersonal als fortschreitende Demenz missdeutet werden.
Ein einmal erhaltener Stempel würde später häufig nicht wieder überprüft, sagt Stolze. Unter Federführung einer Gruppe von Neurologen wurde 2011 in Deutschland die Initiative «Neurology First» gegründet.
In einer gemeinsamen Erklärung riefen sie ihre eigene Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), öffentlich dazu auf, sich der massiven Einflussnahme der Pharmaindustrie in puncto Diagnostik, Therapie und Fortbildung zu verwehren und, wie es in der Erklärung heisst, um «unsere Patienten vor Fehlbehandlung zu schützen». Derart deutliche Worte innerhalb der Ärzteschaft seien eine kleine Sensation, betont Stolze gegenüber der Autorin,
Auf dem 116. Ärztetag im Mai 2013 gab es erste Fortschritte: Die deutsche Bundesärztekammer wurde dazu aufgefordert, für eine Offenlegung aller industriellen Zuwendungen an Ärzte einzutreten und auf eine vergleichbare gesetzliche Regelung wie dem Physician Payments Sunshine Act in den USA hinzuwirken. Darin waren mit Obamas Gesundheitsreform 2010 Zahlungen an Ärzte und Krankenhäuser von Seiten der Medikamenten-Hersteller offenzulegen.2
Im November bereits beschloss der Verein Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie (FSA) einen Transparenzcodex, nach dem Pharmahersteller in Deutschland alle Zuwendungen an Ärzte offenlegen sollen.
Seit 2016 und nach Anerkennung durch das Bundeskartellamt ist dies nun verbindlich. Allerdings: Personenbezogene Zuwendungen müssen nicht online veröffentlicht werden, wenn der Arzt dem nicht zustimmt. Dann werden Name und Höhe der Honorare anonymisiert und zusammengelegt. Ein fragwürdiger Fortschritt.