Demenzkrankheiten verursachten 2009 Kosten von 6,94 Milliarden Franken, mehr als 95 Prozent sind Pflege- und Betreuungskosten1. In Deutschland wird die Krankheit nur bei jedem zweiten Betroffenen von einem Arzt diagnostiziert4. Weniger als die Hälfte der Demenzkranken bekommt die von Experten empfohlene Behandlung5.
Um das zu ändern, haben Neurologen und Psychiater in Deutschland die medizinische Leitlinie für Menschen mit Demenz überarbeitet; sie ist kürzlich erschienen6. Leitlinien sind von Experten geschriebene Empfehlungen für Ärzte, wie sie bei einer bestimmten Krankheit bei der Diagnose und Behandlung vorgehen sollten.
Einige Fakten
116 000 Menschen sind in der Schweiz an Alzheimer oder einer anderen Demenzform erkrankt. Wegen der steigenden Lebenserwartung könnten es 2030 etwa 200 000 und 2050 rund 300 000 sein. Pro Jahr stellen Ärzte die Diagnose bei 28 000 Menschen1. Jeder dritte Mensch glaubt, dass man nichts tun kann, um einer Demenz vorzubeugen2. Rund die Hälfte hat nur vage Vorstellungen davon, wie die Krankheiten behandelt werden können2. Das wollen Politiker und Interessenverbände wie die Alzheimervereinigung ändern: Bund und Kantone verabschiedeten im November 2013 die Nationale Demenzstrategie 2014-2017. Die Bevölkerung soll Betroffene und die Krankheit besser verstehen, es sollen Hemmschwellen und Stigmata abgebaut werden, und alle Menschen mit einer Demenz sollen gut versorgt werden3.
Herr Bürge, leben in der Schweiz auch so viele Menschen mit Demenz und wissen nichts davon wie in Deutschland?
Markus Bürge: Wir haben dazu leider keine genauen Informationen. Hausärzte scheinen inzwischen besser sensibilisiert zu sein für Demenzkrankheiten, so dass sie öfter danach suchen, wenn sie bei einem Patienten den Verdacht haben. Aber auch hierzulande leben viele mit einer Demenz, ohne dass sie diagnostiziert ist.
Woran liegt das?
Zum einen gibt es noch immer Hausärzte, die nicht wissen, wie wichtig es, die Diagnose einer Demenz genau zu stellen. Sie kennen auch therapeutische Möglichkeiten oder präventive Massnahmen nicht gut genug. Zum anderen liegt es am Wesen der Krankheit. Demenzerkrankungen sind anders als andere Krankheiten.
Bei Schmerzen, wenn man bestimmte Körperteile nicht mehr bewegen kann oder selbst bei Depressionen geht der Patient früher oder später zum Arzt und lässt seinen Zustand abklären. Die Zeichen einer Demenz entwickeln sich aber schleichend, so dass dem Patient und seinen Angehörigen längere Zeit kaum etwas auffällt.
Das grösste Problem ist aber die verminderte Krankheitswahrnehmung, die typisch ist für eine Demenz. Dem Patienten ist nicht bewusst, dass er Symptome entwickelt. So sah ich neulich eine Dame, die felsenfest davon überzeugt war, ihre Tochter habe am Tag zuvor nicht angerufen. Die Tochter war sich aber sicher und konnte mir den Anruf sogar auf ihrem Mobiltelefon zeigen. Aber ihre Mutter nahm nicht wahr, dass sie das vergessen hatte.
Ist das ähnlich wie bei Essstörungen, wo die Betroffenen auch überzeugt sind, sie hätten kein Problem?
Bei einer Demenz sehen wir Veränderungen im Gehirn, bei den meisten Essstörungen wohl nicht. Bei der Alzheimer-Demenz gehen vor allem im Hirnbereich hinter der Stirn und hinter den Schläfen Nervenzellen zugrunde. Dort findet man typischerweise auch die ersten Alzheimer-typischen Ablagerungen. Dies verursacht die verminderte Krankheitswahrnehmung. Auch bei den anderen Demenzformen lassen sich ähnliche Veränderungen im Hirn nachweisen.
Hinzu kommt eine psychische Komponente: Die Betroffenen haben Angst, zum Arzt zu gehen, weil sie unterbewusst befürchten, mit ihren Problemen konfrontiert zu werden, etwa dass sie ständig etwas vergessen oder sich nicht mehr konzentrieren können.
Wie wirkt sich das auf die Diagnose aus?
Viele Menschen glauben, es gebe keine wirkungsvolle Therapie gegen eine Demenz, und denken dann vermutlich: Warum soll ich zum Arzt gehen, es bringt ja doch nichts. Wir haben aber Massnahmen und Medikamente, bei denen gut nachgewiesen ist, dass man damit den Krankheitsverlauf für die Patienten positiv beeinflussen und auch den Angehörigen helfen kann. Den meisten Leuten und leider auch vielen Ärzten ist ausserdem nicht bewusst, wie wichtig es ist, zu wissen, unter welcher Form der Demenz jemand leidet.
Warum ist das wichtig?
Weil ich damit sagen kann, was bei der Therapie für den Patienten und die Angehörigen im Vordergrund stehen sollte und was es für den Krankheitsverlauf besonders zu beachten gilt. Wissen die Angehörigen über die Form der Demenz Bescheid, können sie sich auch gezielter darüber informieren. Sie können also zu «Spezialisten» für die entsprechende Demenz werden. Das wirkt sich sehr positiv auf den Patienten und sein Umfeld aus.
Wie wählen Sie die Medikamente aus?
Bei Alzheimer wissen wir, dass Acetylcholinesterase-Hemmer bei leichter bis mittel-schwerer Demenz die Fähigkeit der Patienten fördern, ihre Alltagsaktivitäten zu verrichten, also zum Beispiel sich alleine anzuziehen, zu essen oder kleinere Einkäufe zu machen. Die Medikamente stabilisieren sozusagen das Denken im Gehirn und den Gesamteindruck.
Sie scheinen das Fortschreiten der Demenz hinauszuzögern und den Verlauf zu verbessern. Bei mittelschwerer bis schwerer Demenz verbessert Memantin die Alltagsaktivitäten und den Gesamteindruck. Diese Effekte sind insgesamt zwar nicht sehr gross, können aber für den einzelnen Patienten durchaus von Bedeutung sein.
Wie gehen Sie vor bei einer frontotemporalen Demenz?
Leider können wir nur einzelne Symptome behandeln. Bei diesen Patienten ändert sich oft das Verhalten, sie reagieren zum Beispiel schneller wütend, was sie früher nicht gemacht haben. Das kann natürlich die Angehörigen sehr belasten. Es ist wichtig, die Angehörigen mit Gesprächstherapie, Psychotherapie oder Coaching zu unterstützen, damit sie besser klarkommen.
Und bei einer vaskulären Demenz?
Bei einer vaskulären Demenz ist es besonders wichtig, die Faktoren zu behandeln, die nicht gut sind für die Blutgefässe: Also Diabetes und Bluthochdruck gut einstellen, nicht rauchen, Fettstoffwechselstörungen behandeln, bei Übergewicht abnehmen. Für alle Demenzformen gilt, dass die Patienten im Frühstadium häufig als Reaktion auf die Diagnose unter depressiven Verstimmungen leiden. Hier helfen Antidepressiva gut.
Was sind für Sie die wichtigsten Botschaften der neuen Leitlinie?
Wir in der Schweiz gehen so vor wie in der Leitlinie beschrieben. Die Autoren erwähnen, dass nichtmedikamentöse Massnahmen genauso wichtig sind wie Medikamente. Das ist zwar nicht neu, aber seit der ersten Ausgabe der Leitlinie haben das jetzt auch bessere Studien bestätigt.
Was für nichtmedikamentöse Massnahmen sind das?
Zum Beispiel die kognitive Stimulation, die bei leichter bis mittelschwerer Demenz die Symptome bessern kann. Die Therapeuten führen dabei gezielte Gespräche mit dem Patienten über Erlebnisse in der Vergangenheit oder über ihre Interessen. Das soll das Gedächtnis und das «Denken» trainieren sowie die Fähigkeit zu kommunizieren. Genauso wichtig scheint aber körperliche Bewegung, die ja durch das Hirn gesteuert wird. Bewegung bessert das «Denken», Beweglichkeit, Balance, psychische Symptome und Verhalten.
Müssen Menschen mit Demenz jeden Tag Sport treiben?
Es gibt keine Studien, die uns sagen, wie viel Bewegung sinnvoll ist. Wir wissen, dass diejenigen, die sich mehr bewegen, seltener eine Demenz bekommen. Jüngeren Patienten empfehle ich, dreimal pro Woche eine halbe Stunde den Puls etwas höher zu treiben. Das kann durch strammes Spazierengehen geschehen, durch Velofahren, Schwimmen oder auch Joggen. Älteren rate ich, Gleichgewicht und Balance zu trainieren, am besten in Kombination mit Aufgaben für das Gehirn.
Wie soll das gehen – auf einem Bein stehen und Vokabeln auswendig lernen?
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Man kann mit dem Partner spazieren gehen und sich über Politik, Bücher oder Filme unterhalten. Ein Gespräch zu führen ist schon eine ziemlich komplizierte Aufgabe für das Gehirn – das ist gut zum Trainieren.
Im Frühstadium einer Demenz bleiben die Leute oft stehen, wenn der Partner etwas fragt. Man kann den Patienten vorschlagen, im Strichgang zu gehen und dabei auswendig gelernte Vokabeln oder Zahlenreihen rückwärts aufzusagen.
Ideal ist ein Tanzkurs: Damit trainiert man Körpergefühl und Balance und gleichzeitig den Geist, indem man sich die Figuren merken muss. Wenn das auch dem Partner Spass macht, ist das super.
In der Leitlinie wird erwähnt, wie wichtig es ist, sich um die Angehörigen gut zu kümmern. Warum?
Viele belastet die Situation und die Pflege verständlicherweise sehr. Sie fühlen sich überfordert, und manche werden selbst krank. Ein Angehörigentraining mit klar verständlichen Informationen, Gesprächstherapie und Coaching können die Angehörigen entlasten und tragen gleichzeitig dazu bei, dass sich auch der Demenzkranke besser fühlt.
Was steht in der Leitlinie Neues zu Medikamenten?
Wir haben leider noch kein Medikament, mit dem wir eine Demenz heilen können. Doch über die bestehenden vier Medikamente gegen Alzheimer wissen wir jetzt mehr. Mit ihnen wird der Verfall der geistigen Fähigkeiten behandelt.Bild 2
Der Arzt muss die Medikamente aber individuell an den Patienten anpassen. So hilft Memantin bei mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz, aber nicht bei leichter – auch nicht in Kombination mit Acetylcholinesterase-Hemmern.
Ein Abschnitt der Leitlinie geht auf die Früherkennung ein. Was wird da falsch gemacht?
Es hat keinen Sinn, bei Menschen ohne Verdacht auf eine Demenz eine Früherkennungsuntersuchung, also ein Screening, zu machen.
Bei Personen, denen selbst Symptome auffallen oder deren Angehörige darauf aufmerksam werden, sollte der Arzt bestimmte psychologische Tests durchführen, um die Beobachtungen zu bestätigen.
Wie äussert sich eine Demenz am häufigsten?
Viele Patienten merken, dass sie sich Dinge nicht mehr merken können – vor allem das, was sie eben gerade noch gehört, gesagt oder gelesen haben. Häufig nehmen die Betroffenen diese Gedächtnisstörungen allerdings gar nicht selbst wahr. Es sind vor allem die Angehörigen, die sich Sorgen machen: Der Partner oder die Partnerin stellt zum Beispiel immer wieder die gleichen Fragen oder erzählt die gleiche Geschichte kurz hintereinander.
Ein frühes Zeichen ist auch, wenn man nicht mehr weiss, welcher Tag oder welches Datum heute ist, und dass man sich in fremder Umgebung nicht mehr gut orientieren kann. Angehörigen fällt oft auch auf, dass der Betroffene im Alltag nicht mehr die Dinge gut macht, die er früher konnte, etwa Kochen oder Geige spielen. Allerdings kann es dafür ja auch eine andere Ursache geben, zum Beispiel eine Arthrose. Der Arzt muss sich viel Zeit nehmen für das Gespräch.
An wen soll man sich wenden, wenn einem an sich selbst oder bei einem Angehörigen etwas auffällt?
Primär an den Hausarzt. Falls dieser auch an eine mögliche Demenzentwicklung denkt, sollte er den Betroffenen an eine Memory Clinic überweisen. Am besten ist, wenn die engen Angehörigen bei der Abklärung und auch bei der nachfolgenden Diagnosebesprechung mit dabei sind.
Dort werden nicht nur die Bedürfnisse des Patienten angesprochen, sondern auch die der Angehörigen. Ich erkläre ihnen, dass es professionelle Informationsstellen wie die Alzheimervereinigung und psychotherapeutische Hilfe gibt und dass ihnen das helfen kann, mit der Situation klar zu kommen.
Wann ordnen Sie Aufnahmen des Gehirns an oder eine Untersuchung des Hirnwassers, eine Liquorpunktion, an?
Eine Liquorpunktion kann die Diagnose erhärten, aber ich mache das nur in bestimmten Fällen. Zum Beispiel im Frühstadium, wenn ich noch nicht genau weiss, was die Ursache ist. Eine Positronenemissions-Tomografie (PET), in der der Stoffwechsel im Hirn dargestellt wird, ordne ich dann an, wenn ich eine frühe Alzheimerdemenz von einer frontotemporalen Demenz abgrenzen möchte oder anderen psychiatrischen Krankheiten.
Ich habe von einer so genannten Amyloid-PET gehört. Wann ist die erforderlich?
Nur im Rahmen von Studien. Die Untersuchung ist teuer und wird im Gegensatz zur Stoffwechsel-PET nicht von den Kassen übernommen. In Studien kann man damit aber eindeutig Leute mit Alzheimerablagerungen im Hirn diagnostizieren und dann in die Studie einschliessen. Wenn Patienten daran Interesse haben, können sie gerne an so einer Studie mitmachen – vielleicht tragen sie dann dazu bei, dass es ihnen oder anderen Menschen mit Demenz besser geht.