Ein offener Umgang und der Austausch in Schicksalsgemeinschaften machen ein gutes Leben mit Demenz erst möglich.
Symbolbild Adobe Stock
Stigmatisierung und Wissenslücken schaden der Lebensqualität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Pflegepersonen – vor allem jene in ambulanten Diensten – können dies ändern, indem sie Angehörige auf Informations- und Hilfsangebote aufmerksam machen.
Herr Hanselmann* rüttelt an der Türfalle. Er verlangt nach dem Schlüssel und sagt, dass er den Abschluss machen müsse. Die Erklärungen seiner Frau, dass es drei Uhr morgens sei, dass er das Pyjama trage und als Rentner nicht mehr zu arbeiten brauche, versteht er nicht. Schimpfend geht sie zurück ins Schlafzimmer und hört, wie es im Wohnzimmer rumort. Um halb fünf Uhr erwacht sie wieder, als sie einen dumpfen Aufprall hört.
Der World Alzheimer Report 2019 zeigte auf: Demenz ist stigmatisiert, weil die Menschen zu wenig über diese Krankheit wissen. Umgekehrt besorgen sich viele Menschen mit Demenz und Angehörige weder Wissen noch Unterstützung, weil die Krankheit stigmatisiert ist. Die zwischen 1922 und 1955 geborenen »Traditionals«, zu denen auch die Hanselmanns gehören, neigen dazu, ihre Defizite zu verbergen. Geprägt durch Krieg, Wiederaufbau und strenge Hierarchien haben sie gelernt: Wer leistet, ist gut. Wer nicht leistet, geht unter.
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Es ist also naheliegend, dass Menschen mit Demenz Strategien entwickeln, um ihre Defizite zu verbergen. Dass sie sich weigern, wegen ihrer Vergesslichkeit zum Arzt zu gehen, sich zu informieren und Unterstützung zu holen. Und dass sie sich nach der Diagnose verstecken und mit niemandem über ihr tragisches Schicksal sprechen.
Wir kennen den fröhlichen Rentner, der die Röntgenbilder seiner Hüfte zeigt und seine OPs beschreibt.
Uns ist aber noch niemand begegnet, der ungefragt den Scan seines Hirns zeigt und erklärt, wie ihm verklumpte Eiweiße den Verstand rauben. Andreas Trubel, Betroffener und Demenzaktivist aus Wien, bringt es auf den Punkt: »Ein Herzinfarkt ist wie ein Orden. Wenn du eine Demenz hast, bist du der Volltrottel.«
Vorurteile verhindern das Mögliche
In den Augen des Großteils der Bevölkerung ist ein Mensch mit Demenz fremdbestimmt, inkontinent, pflegebedürftig – vielleicht sogar aggressiv und gefährlich. Diese Vorurteile lassen vergessen, dass Menschen mit Demenzdiagnose sehr gute Chancen haben auf ein paar gute und lebenswerte Jahre. Damit dies gelingt, braucht es Wissen, empathische Menschen, einen geeigneten Lebensraum und praktische Hilfsmittel.
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Herr Hanselmann hat alle Bücher aus den Regalen geräumt und auf den Esstisch gelegt. Er hat Seiten herausgerissen, die nun im ganzen Wohnzimmer verteilt sind. Frau Hanselmann funktioniert wie in Trance. Sie verbindet seinen Kopf und versucht, den schweren Mann auf die Beine zu bringen. Es knackt in ihrem Rücken, Schmerz schießt durch ihren Körper.
Der Aufklärung und dem Vermitteln von Wissen steht nicht nur die Stigmatisierung der Krankheit im Weg, sondern auch die Geschichte. Erst vor vierzig Jahren begannen sich Fachleute aus verschiedenen Sparten ernsthaft mit dem Thema zu befassen. Bis praktikable Angebote da waren und das Thema »Demenz« in den Ausbildungen von Pflegenden, Medizinern, Psychiatern etc. angekommen war, brauchte es Zeit. Noch immer gibt es aber auch in diesen Berufsgruppen gravierende Wissenslücken.
Angehörige sollen Angebote kennen und anwenden
Jedes Kind weiß, wie man einen Schnitt im Finger behandelt und dass man eine bewusstlose Person auf die Seite legen muss. Kaum jemand hat aber eine Ahnung davon, wie man mit der demenzkranken und apathischen Oma umgeht und wie man sie beim Aufstehen unterstützt.
Wenn wir wollen, dass Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen mehr Lebensqualität, Selbstbestimmung und Sicherheit erfahren, müssen wir dafür sorgen, dass Wissen unter die Leute kommt. Dass Pflegende und Angehörige Angebote wie einfühlende Kommunikation, Validation, Kinästhetik, Aromatherapie, Basale Stimulation usw. kennen und anwenden.
Frau Hanselmann schafft es, ihren Mann aufs Sofa zu ziehen. Dort schläft er, bis die Pflegeperson der Spitex eintrifft. Die übernächtigte Frau Hanselmann bittet die Pflegeperson um ein starkes Schmerzmittel. Herr Hanselmann hat den Verband abgerissen und blutet wieder. Weil keine Familienangehörigen einspringen können und Frau Hanselmann wahrscheinlich ins Spital muss, informiert die Pflegeperson ihre Vorgesetzte. Herr Hanselmann muss zumindest temporär in ein Heim oder eine psychiatrische Anstalt.
demenzwiki
Krankheitsverlauf
Der Verlauf einer Demenz ist von vielen Faktoren abhängig. Dazu gehören die Form der Demenz, das Alter, der Lebenswandel sowie der seelische und … weiterlesen
Wie können wir den eingangs beschriebenen Teufelskreis durchbrechen? Der gesellschaftlichen Dimension des Themas angemessen wäre, dass es auf die Lehrpläne der Grundschulen kommt. Unabhängig davon sind Pflegepersonen, Ärzt:innen, medizinische Praxisassistent:innen usw. wichtige Multiplikatoren. Sie können Patienten und Angehörigen aufzeigen, wo sie Hilfe bekommen und über welche Angebote sie sich informieren sollten. Damit dies gelingen kann, braucht es niederschwellige Angebote und zentrale Anlaufstellen – die aber leider kaum vorhanden sind.
Neue Wege in der online-Kommunikation
Der Verein demenzworld hat dies erkannt und ist im Frühjahr 2023 mit der gleichnamigen Plattform online gegangen (siehe Box am Ende des Artikels). Damit wollen die Initianten eine Lücke schließen: Sehr oft klagen Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen darüber, dass die Informationen und Angebote verzettelt und nicht koordiniert sind.
Bereits heute erreicht demenzworld im deutschen Sprachraum monatlich eine halbe Million Menschen. Eine Kampagne soll dafür sorgen, dass sich noch mehr Menschen auf der Plattform informieren und austauschen können. Die Initianten arbeiten auch daran, dass das Informationsmaterial vermehrt an Pflegepersonen kommt, damit sie es ihren Patienten und Klienten weitergeben können.
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Gehen wir einmal davon aus, dass sich die Hanselmanns informiert haben. Dass sie sich in Schicksalsgemeinschaften ausgetauscht und sich mittels Websites, Büchern, Filmen, Lernvideos usw. Wissen angeeignet haben. Es ist wahrscheinlich, dass die Situation in dieser Nacht nicht derart eskaliert wäre.
Den Hanselmanns wäre Leid und Schmerz erspart geblieben. Die Pflegepersonen, Ärtz:innen, Gerontopsychiater:innen usw. hätten sich anderen bedürftigen Menschen widmen können. Und ganz nebenbei wäre das Gesundheitswesen einen fünfstelligen Betrag weniger teuer.
Herr Hanselmann rüttelt an der Türfalle. Frau Hanselmann sagt: »Ja, in der Firma gibt es jetzt viel zu tun. Du hast das immer sehr gerne und gut gemacht. Weißt du noch, wie dich der Direktor an der Aktionärsversammlung gelobt hat?« Sie spricht mit ihm ein paar Minuten über seine Arbeit, die er so geliebt hat. Die beiden machen sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Frau Hanselmann gibt ein paar Tropfen Lavendel-Öl auf ein Taschentuch und legt es zu ihrem Mann. Und falls er auf dem Weg ins Bett hingefallen wäre, hätte sie ihn so aufgenommen, wie sie es im Lernvideo gezeigt haben.
Eine zentrale Anlaufstelle für Menschen mit Demenz und Angehörige
Die Plattform www.demenzworld.com unterstützt Menschen mit Demenz und Angehörige. Sie ist die Anlaufstelle für gebündelte Information und Vernetzung, indem sie Angehörige, Betroffene und Fachpersonen zusammenbringt. Online und an Veranstaltungen können sie Wissen und Erfahrungen teilen und sich so zu Lösungen inspirieren.
demenzworld vereint Bausteine für einen guten Umgang mit der Erkrankung:
www.demenzworld.com. Im Abo-Bereich führt das demenznavi Betroffene und Angehörige durch alle Phasen des Lebens mit Demenz. Außerdem gibt es Checklisten und Lifehacks zum Herunterladen.
www.demenzwiki.com erklärt schnell und einfach die 150 wichtigsten Demenzbegriffe.
www.demenzjournal.com informiert über das Leben mit Demenz sowie News aus Politik, Forschung und Gesellschaft.
demenzforum auf Facebook schafft einen Raum für vertrauensvollen, moderierten online-Austausch.
Auf den Demenz Meets sprechen Angehörige, Betroffene und Fachpersonen über ihr Erleben und verbringen gemeinsam »leichte Stunden zu einem schweren Thema«.
Diesen Beitrag schrieb der demenzworld-Redaktor Martin Mühlegg im Oktober 2023 für die SBK-Zeitschrift Krankenpflege. Wir bedanken uns für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.
* Die Namen im Fallbeispiel sind geändert.
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