demenzjournal: Herr Luciani, im Ted-Video (s. unten) zeigen Sie einem zahlreichen Publikum Ihre fantastischen Fotografien. Sie reden mit brüchiger Stimme und Tränen in den Augen, während sich die Zuschauer ob der gezeigten Bilder amüsieren – ein sehr berührender Moment, gleichzeitig lustig und traurig.
Tony Luciani: Die Reaktion des Publikums war eine Mischung aus Angst und Erleichterung. Zwei starke emotionale Zustände, entstanden aus dem Bedürfnis nach Empathie, Akzeptanz und Selbsterkenntnis.
Ich wollte zeigen, dass ein würdevolles Leben viele Facetten hat – von Humor bis zur Verzweiflung. Was die Zuschauer zu sehen bekamen war eine Spiegelung ihrer selbst: Was einmal aus ihnen werden wird – als Angehörige oder vielleicht sogar als Betroffene.
Hat Ihnen der Humor geholfen bei der Betreuung Ihrer Mutter?
Humor war oberstes Gebot, um mit dieser Situation der totalen Hilflosigkeit umzugehen. Ich fühlte mich einsam und allein gelassen mit einer geliebten Person, die scheinbar am Ende war; die dabei war, loszulassen. Meine Familie hatte mir die Aufgabe übertragen, unsere Mutter an den letzten Ort des Friedens zu begleiten.
Aber statt das Ende zu finden, fielen wir gemeinsam an den Anfang zurück. Sie entdeckte erneut viel Freude in ihrer eigenen Kindheit, also spielten wir. Das Leuchten war in ihre Augen zurückgekehrt, und das viele gemeinsame Lachen übertünchte Kummer und Sorge.
Das machte meine Aufgabe als vollzeitliche Betreuungsperson um einiges einfacher: Die Mutter wurde zu meinem Kind und der Humor war unser Spielzeug.
Durch Ihre eigene Kreativität fanden Sie einen neuen Zugang zu Ihrer Mutter. Doch nicht jeder Mensch ist mit so viel Talent gesegnet wie Sie. Was sind Ihre Ratschläge an Menschen in ähnlichen Situationen?
Ich rate zu viel Geduld. Umarmt die Gelegenheit, viel Zeit mit der geliebten Person zu verbringen. Beantwortet jede ihrer Fragen, immer wieder, denn für sie ist es so, als würde sie bereits gestellte Fragen zum ersten Mal stellen.
Macht diesen Mensch so glücklich wie es nur geht. Findet ein gemeinsames Interesse oder unternehmt etwas, es braucht nichts tiefgründiges oder spektakuläres zu sein. Vielleicht ein Spaziergang?
Und regt euch nicht auf, wenn sie das, was ihr als «normal» anseht, nicht auf ähnliche Weise wahrnimmt. Die Idee einer Normalität hat sich für Betroffene verändert.
Akzeptiert und umarmt diese neue Realität. Vergesst diese Momente nie, auch wenn die betreute Person sich nicht daran erinnern wird – gefühlt und gespürt hat sie es sicher.
Aber jede Geschichte findet auch einmal ihr Ende …
Die vierjährige Schaffenszeit mit Malerei und Fotografie kam zu einem abrupten Ende. Als meine Mutter nicht länger erkannte, was wir hier eigentlich taten, empfand ich es fortan als unethisch, Bilder von ihr ohne ihr Einverständnis zu machen. Also hörte ich damit auf. Es war die richtige Entscheidung.
Aber es hat eine Leere in mir hinterlassen, mir fehlte ein richtiges Ende, es ging alles zu schnell für mich.
Eines Tages erfuhr ich von diesem uralten Pilgerpfad im nördlichen Spanien und der Gedanke daran liess mich nicht mehr los. Ich fühlte mich stark angezogen von diesem Camino de Santiago, las Bücher darüber und sah mich bereits dort entlang wandern.
Dann realisierte ich: Das war mein Projekt! Ich musste diese Pilgerreise unter die Füsse nehmen, für Mutter und alle anderen Betroffenen. Ich wollte sie mitnehmen, nicht körperlich, aber im Geiste.
Auch den Betreuenden, Angehörigen und Pflegenden fühle ich mich nah und verbunden, ihre Arbeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Die Idee liess mich nicht mehr los. Hier war das lange ersehnte Ende des Projekts mit meiner Mutter. So, wie ich es erhofft hatte. Im September 2019 geht es nun endlich los mit dem Walk to Remember. Bis dahin sammle ich Geld und versuche so gut es geht Aufmerksamkeit dafür zu generieren.
Im Moment trainiere ich, seit ein paar Monaten laufe ich jeden Morgen acht bis zehn Kilometer.
Wird man Ihnen folgen können?
Selbstverständlich werde ich versuchen Berichte, Fotos und Gedanken über die sozialen Medien zu verbreiten, ich habe eine treue Facebook-Gemeinde. Ich schulde das all jenen, die grosszügig an die Alzheimer’s Society gespendet haben oder noch spenden werden.
Vielen Dank für das Gespräch, wir werden unsere Leserinnen und Leser über dieses Projekt auf dem Laufenden halten.
Anmerkung der Redaktion: Tony Lucianis Mutter Elia Clementa Luciani ist im Oktober 2021 verstorben.
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