Von Evelyn Werner & Manuel Stark
Typisch für Sarah ist, sie nimmt deine Hand und küsst sie, das ist so ihre Art zu zeigen, dass sie dich mag. Als ich das letzte Mal bei ihr war, ist sie mir beim Abschied hinterher und hat mich nochmal und nochmal umarmt und geküsst.
Bevor ich Fotografin geworden bin, war ich Kinderkrankenschwester. Ich habe einen ambulanten Kinderpalliativ- und Intensivpflegedienst geleitet und in diesem Kontext auch die Familie von Sarah kennengelernt. Ihre Diagnose, Kinderdemenz NCL, wurde damals gerade erst gestellt.
Sarah hat gute und schlechte Tage. Manchmal hat sie mich mit Umarmung und Küssen begrüßt, und dann gab es Treffen, da weiß ich gar nicht, ob sie mich erkannt hat. Es gab auch Tage, da hat sie kaum wahrgenommen, dass ich anwesend bin.
Für mich als Fotografin war das eine Herausforderung, klar. Nur bin ich mit meiner Kamera schon oft in Situationen gewesen, wo gerade ein Kind gestorben ist, wo Krebspatienten in Tränen ausbrechen. Ich kann damit umgehen, wenn Situationen sich plötzlich verändern.
Fotopreis »Demenz neu sehen«
Das Leben mit Demenz aus einer neuen Perspektive wahrnehmen: Dazu veranstaltete der Münchner Verein Desideria 2024 zum zweiten Mal den Fotowettbewerb »Demenz neu sehen«. 78 Fotograf:innen haben besondere Augenblicke eingefangen. Diese Artikelreihe beleuchtet die Gewinner:innen der vier Kategorien Profi, Amateur, Nachwuchs und Sonderpreis.
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Meine Regel bei Sarah war: Wenn sie nicht antwortet, fotografiere ich nicht, sondern setze mich nur zu ihr.
Wenn sich Sarah mit etwas beschäftigt hat, konnte sie völlig darin versinken. Beispielsweise ist da ein Foto mit ihrer Barbiepuppe entstanden, sie war völlig versunken darin die Haare der Puppe zu kämmen. Auch wenn Sarah Hörbuch hörte, hat sie kaum noch etwas um sich herum wahrgenommen. Sie sagte auch immer, sie will Fernsehen gucken, obwohl sie ja seit ihrem achten Lebensjahr blind ist.
Manchmal kniet sie sich auf ihre Matratze und zieht den Fernsehbildschirm ganz nah an ihr Gesicht, so nah, dass sie ihn mal mit dem Ohr, mal mit der Nase beinahe berührt. Dann spricht sie Passagen aus dem Film mit. Dazwischen ruft sie manchmal sowas wie »Der gestiefelte Kater, der gestiefelte Kater!«, obwohl im Film Lilo und Stitch überhaupt kein gestiefelter Kater vorkommt. Oder sie klopft sich auf die Schenkel oder springt auf und lacht ganz laut, bis sie ganz rote Wangen hat.
Es ist so, als hätte sie einen eigenen Film im Kopf, der parallel abläuft.
Sarahs Verhalten war nie vorherzusehen. Beispielsweise bei ihrer Taufe: Während der Zeremonie war sie in sich gekehrt und hat gewimmert. Aus ihrem Rollstuhl hat sie sich nach vorne gebeugt, um ihren Kopf auf den Arm der Mutter zu legen. Während der ganzen Taufzeremonie hat jemand ihre Hand gehalten. Als sie sich bei ihrer Mutter angelehnt hat, war es der Vater, als der aufgestanden ist, hat Sarah sofort nach der nächsten Hand gesucht, da hat der älteste Bruder übernommen.