Von Veit Stauffer und Marcus May
Nach fast 50 Jahren intensiver Beschäftigung mit musikalischen Strömungen, populären Trends, Musikgeschichte und künstlerischen Ausdrucksformen hatte Veit Stauffer, Inhaber des RecRec-Ladens im Zürcher Kreis 4, endgültig genug. Seit Ende Dezember 2020 sind Laden und Postversand Legende. «Die nächsten zehn Jahre soll man mich damit einfach in Ruhe lassen», lässt sich der 62-Jährige gern zitieren.
Für alzheimer.ch machte er eine löbliche Ausnahme. Er wählte fünf Werke aus, von denen er überzeugt ist, dass sie für viele musikalisches Neuland bedeuten..
Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704) – Die Rosenkranz-Sonaten
Die Entdeckung des Jahres, dank dem Künstler Rolf Winnewisser, der in meinem Laden unermüdlich experimentelle Musik oder historische Perlen bestellt hat. Ein aufmerksamer und belesener Zeitgenosse, der Fährten und Spuren verfolgt. Einst nannten wir das an der Farbe & Form-Schule «künstlerische Feldforschung».
Der Tipp für die faszinierenden Rosenkranz-Sonaten (komponiert um 1678) von Heinrich Ignaz Franz Biber kam ursprünglich vom Avantgardisten Tony Conrad (1940-2016), dem die Begegnung mit dem Werk eine Offenbarung bedeutete. Auch der in die Schweiz übersiedelte britische Bassist Barry Guy (*1947) hat mehrfach Werke von Biber eingespielt.
Der fast 300-jährige Biber würde sich wohl darüber freuen, in meinem Shop unter «Moderne Klassik» aufgeführt zu sein …
Eine vielschichtige und abwechslungsreiche Instrumentalmusik für Geige, Orgel und Cembalo. Für jede der 15 Sonaten sieht Biber eine andere Stimmung vor, was eine Vielzahl von unterschiedlichen Klängen und Klangfarben ermöglicht. Die Handschrift befindet sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek.
Die vorliegende Aufnahme vom Juli 1989 wurde von John Holloway (Violine) und Davitt Moroney (Orgel, Cembalo) eingespielt. (Veit Stauffer, Oktober 2020)
Bill Callahan – Shepherd In A Sheepskin Vest
Ein Schäfer in einer Schafsfell-Weste? Wenn Bill Callahan singt, verlangsamt sich der Lauf der Welt, verschwinden digitale Beschleunigung, Kosten-Nutzen-Kalkulationen, all die Zumutungen des banalen Alltags. Have you ever seen a shepherd afraid to find his sheep?, fragt der 52-Jährige aus Austin, Texas, stattdessen.
Callahans erste Veröffentlichungen erschienen unter dem Bandnamen Smog auf Audiocassetten. Diese waren von kargen Melodien und dissonanten Arrangements geprägt. Damit entsprachen sie in etwa Callahans damaligen instrumentalen und produktionstechnischen Möglichkeiten.
Nach einem Live- und einem Dub-Album ist dies ein weiteres vollendetes Album von Bill Callahan. Der Nachfolger von Dream River (2013), das er an seinem St.Galler Konzert im Februar 2014 dem Kulturvermittler und Smog-Fan Polo Magnaguagno (1960-2014) widmete. Magnetische Sogkraft auf Samptpfoten, ein Hochgenuss auf den Spuren von Leonard Cohen, Tom Rapp, Lambchop und Will Oldham. (Veit Stauffer, Juni 2019)
Leyla McCalla – Capitalist Blues
Leyla McCalla wuchs in New Jersey und Ghana auf; ihre politisch aktiven Eltern waren aus Haiti in die USA eingewandert. Nach einem Jahr auf dem Smith College studierte sie an der New York University klassisches Cello. Dann wandte sie sich den eigenen musikalischen Wurzeln zu und wurde Teil der Folkband Carolina Chocolate Drops, mit der sie mehrere Alben einspielte. Das Folk-Ensemble wurde sogar mit einem Grammy ausgezeichnet.
In Capitalist Blues, ihrem dritten Album unter eigenem Namen, lotet Leyla McCalla unter Beteiligung von Musikern aus New Orleans die Mechanismen des Kapitalismus aus.
Ein sehr befreit wirkendes Album, souverän im Umgang mit den Stilmitteln, mit einem Touch Hazmat Modine, dem expressiv schwarzen Element von Jimi Hendrix («Aleppo») und der Lebensfreude von Orchestra Baobab («Mize Pas Dous»). Ein Wurf. (Veit Stauffer, Januar 2019)
Anouar Brahem – Blue Maqams
Anour Brahem: «Schon als junger Musikstudent begann ich in meiner Heimatstadt Tunis Jazz zu hören. Zu der Zeit widmete ich mich mit Hingabe der traditionellen arabischen Musik, die ich bei dem grossen Meister Ali Sriti studieren durfte.
Gleichzeitig war ich aber auch voller Neugier auf andere musikalische Ausdrucksformen. Die Ästhetik des Jazz ist eine ganz andere als die der arabischen Musik, aber ich fühlte mich davon angesprochen, weil sie mir eine andere Welt eröffnete, eine, der ich mich ebenfalls nahe fühlte.»
Das neue Album des arabischen Oud-Spielers Anouar Brahem, passt wunderbar zur Aufhellung des Gemüts im zähen November-Nebel. Hier erstmals im Zusammenspiel mit zwei langjährigen Cracks des ECM-Labels, Dave Holland (Bass) und Jack DeJonette (Drums), sowie dem Pianisten Django Bates, den wir von früheren Alben mit Bill Bruford, Corin Curschellas oder Doran/Studer kennen. Oriental Jazz vom Feinsten. (Veit Stauffer, November 2017)
Nadja Zela – Greetings To Andromeda. Requiem
Sehr starkes und eindrückliches Album, eine beachtliche Teamarbeit rund um die Zürcherin Nadja Zela, von ihrer Band anteilnehmend und mit viel Flow inszeniert. Die mehrsprachigen Texte illustrieren ein 80-minütiges Requiem für Christophe Badoux (1964-2016).
«Nach dem überraschenden Tod meines Mannes und Vaters meiner Kinder, unserem geliebten Badoux, musste ich eine längere musikalische Schaffenspause einlegen. Ich danke allen, die mich ermutigt haben, meine Stimme wieder zu finden. Wir haben ein Rock-Requiem geschrieben, welches im November 2020 erschienen ist.» (Nadja Zela)
Eine wahrhaft schöne Herbstplatte von lang anhaltender Wirkung mit einem sehr tollen Cover von Nando von Arb. Eine höchst phantasievolle Umsetzung des Themas, möglicherweise eine moderne Variante von Bruegels «Triumpf des Todes». Übrigens: Das 5-minütige Making Of-Video ist der beste Einstieg zum Album, oder auch das wunderschöne Eiskunstlauf-Video «Wanna Be With You».
PS. 1995 bis 96 steckte ich nach einer Todeswelle im Freundeskreis selber in einer anhaltenden Trauerphase. Es halfen mir die Werke: Gone Again (1996) von PATTI SMITH, Himmel & Hölle (1995) von RIO REISER, Dead Man (1996) von NEIL YOUNG, zehn Jahre später dann auch Evangelista (2006) von CARLA BOZULICH. (Veit Stauffer, November 2020)