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«Design darf nicht stigmatisieren»

2ND WEST gestaltete unter anderem den Schlaraffenlandwagen der Sonnweid. Bild Marcus May

Michael Thurnherr entwickelt mit seinem Design-Studio 2ND WEST Kaffeemaschinen, Sensoren, Sonnenschirme, Ausstellungen – und Produkte für Menschen mit Demenz. Als Mitglied der Vereinigung «hundert x tausend» engagiert er sich für die Plattform alzheimer.ch.

alzheimer.ch: Woran arbeiten Sie und Ihre Mitarbeiter gerade?

Michael Thurnherr: Wir konzipieren die Szenografie einer Dauerausstellung im Schloss Kyburg bei Winterthur. Im Zusammengang mit einem Erlebnisweg in St. Gallen machen wir uns Gedanken darüber, welche Geschichten der Wald zu erzählen hat.

Wir arbeiten an verschiedenen Sensoren für die Kollaboration Mensch-Roboter. Wir entwickeln Kaffeemaschinen für die Gastronomie und für den Heimgebrauch. Ausserdem gestalten wir Brandmelder und Sonnenschirme.

Ihre Arbeit ist demnach sehr abwechslungsreich. Wie schaffen Sie es, in so vielen Gebieten kompetent zu gestalten?

Michael ThurnherrBild Studio 2ND WEST

Ich liebe Abwechslung, immer neue Herausforderungen. Als Designer bin ich so etwas wie ein universeller Dilettant. Eine unserer Kernkompetenzen besteht im genauen Beobachten. So können wir auch in komplexen oder völlig unbekannten Aufgabenstellungen schnell erkennen, worum es eigentlich geht. 

Das gemeinsame aller Aufgaben ist, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. An ihm und an ihren Bedürfnissen orientieren wir unsere Arbeit, sei es nun eine Ausstellung oder ein Produkt.

Gestalten Sie derzeit auch Produkte für Menschen mit Demenz?

Nein. Zuletzt gestalteten wir im Design-Studio 2ND WEST die Trennmöbel für die neue Oase in der Sonnweid. Es sind zwei verschiedene Möbel, die mobil sind und sich verändern lassen. Es sind sehr wohnliche Möbel, die gleichzeitig funktional sind.

In den vergangenen Jahren gestalteten wir unter anderem einen mobilen Kochherd (Kochboy), einen fahrbaren Korpus, der mit Material für die Aktivierung gefüllt ist (Actiboy) und einen Schlaraffenlandwagen.

Brauchen Menschen mit Demenz anderes Design als Gesunde?

Nein, warum denn auch?

Weil sie Einschränkungen haben. Sie haben Wahrnehmungsstörungen, sind vergesslich, weniger beweglich…

Es gibt die Begriffe «Design for all» und «Universal Design». Design darf nicht stigmatisieren. Wenn wir eine grössere Ziffer auf ein Telefon schreiben, hilft es uns allen.

Es gibt aber spezielle Ansprüche. Ein Löffel mit einem dickeren Griff macht Sinn, weil ihn dann Menschen mit Demenz besser halten können.

Das kann sein. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Menschen mit Demenz oder Behinderung lieber normale Produkte benutzen. Sie wollen nicht, dass man ihnen wegen diesen Produkten ansieht, dass sie anders sind.

Wir haben in meiner Yogaloft eine spezielle Yoga-Klasse für ältere Menschen und haben sie auch so benannt. Es kommen wenige Leute, obwohl viele Ältere in die normalen Klassen kommen (Anmerkung der Redaktion: Thurnherr ist auch Yogalehrer und betreibt mit seiner Frau Lina Thurnherr-Baggenstos die Yogaloft in Rapperswil-Jona).

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Alt sind immer die anderen…

Alt sind die, die zehn Jahre älter sind, egal, in welchem Alter man ist. Darum will man keine Produkte, die auf das Alter ausgerichtet sind – ausser, wenn wirklich Einschränkungen vorhanden sind. Wenn man etwas gar nicht mehr kann, ist man froh um spezielle Produkte. Aber man zeigt sie nicht gerne.

Delizio-Kaffeemaschinen, gestaltet von 2ND WESTBild Esther Michel

Es ist wie mit dem Schüler, der seinen leuchtenden Bändel nicht mehr tragen will, weil die grösseren Schüler keinen tragen…

Genau. Wir haben mit einem Mann, der eine Querschnittlähmung hat, aber an Krücken laufen kann, einen speziellen Krückenfuss entwickelt. Mit einem normalen Krückenfuss kann er nicht in den Wald, in den Schnee, die Wiese oder den Sand, weil er im weichen Boden einsinkt. Er sagt: «Ich bin behindert, aber ich will mich nicht behindern lassen.»

Der neue Krückenfuss sieht aus wie ein Geckofuss, er wirkt sehr sportlich. Der Mann kann dank solchen Produkten unglaublich viel unternehmen. Er gibt ihm ein Stück Freiheit zurück. Dem Krückenfuss soll man aber nicht ansehen, dass er für Behinderte entwickelt worden ist.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Wenn Sie Produkte für Menschen mit Demenz entwickeln, sollten Sie sich in ihre Lage versetzen. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Die Möbel, die wir entwickelt haben, werden nicht von Menschen mit Demenz bedient, sondern von den Mitarbeitenden. Es gibt aber eine sekundäre Funktionalität. Menschen mit Demenz sollen sich vom Schlaraffenlandwagen bedienen können…

…und sollen zum Beispiel nicht irritiert werden von Spiegeln oder flirrenden Mustern…

Meine Mitarbeitenden eigneten sich Kompetenz an, indem sie auf den Stationen der Sonnweid die Bewohner beobachteten. Die Funktionalität überprüften wir zusammen mit Mitarbeitenden der Sonnweid an einem Modell.

Wir haben «Trial and Error» praktiziert.

Eine Idee ist immer eine Hypothese. Wir fragen uns, wie wir an dieser Idee möglichst schnell die Funktionalität überprüfen können. Dafür gibt es den Begriff des «minimal funktionierenden Prototypen». Das formale Design und das Schön-Machen kommen später.

Wie gut waren Ihre Stellwand-Prototypen?

Zum Hoch- und Runterfahren der Wände gibt es eine Gasfeder. Die mussten wir noch genauer auslegen. Die Führung verhakte sich manchmal, was unangenehme Geräusche erzeugte. Wir mussten also noch kleine Änderungen vornehmen. Diese haben schliesslich eine spürbare Verbesserung gebracht, auch für die Bewohner.

Turmix-Rührwerk, gestaltet von 2ND WESTBild Studio 2ND WEST

Wie sind Sie mit dem Thema «Demenz» in Kontakt gekommen? Gibt es einen privaten Bezug?

Meine Mutter arbeitete jahrelang in der Aktivierung der Sonnweid. Über sie lernte ich Michael Schmieder kennen. Ich interessierte mich mehr und mehr für Demenz und konnte verschiedene Produkte entwickeln für die Sonnweid.

Weshalb engagieren sich als Mitglied der Vereinigung «hundert x tausend» für die Plattform alzheimer.ch?

Für mich macht alzheimer.ch sehr viel Sinn. Die Plattform kommuniziert möglichst breit und normal auf einem heute sehr angebrachten Medium. Wenn ich für mein Designbüro 2ND WEST neue Mitarbeitende einstellen will, achte ich besonders auf das Herzblut der Bewerber. Ich liebe es, wie beherzt Michael Schmieder und die Mitarbeitenden von alzheimer.ch ihren Job machen.

Mir geht es auch darum, die Gemeinschaft unter Menschen in irgendeiner Form zu unterstützen. Es ist wichtig, dass Demenz entmystifiziert wird und dass normal darüber gesprochen wird, denn Demenz ist längst zu etwas Normalen geworden in unserer Gesellschaft – nur wird das von Vielen noch nicht wahrgenommen.