Schon länger fragt sich Ingwer Feddersen (Charly Hübner), wo eigentlich sein Platz im Leben ist. Er ist Ende Vierzig, lebt in einer Dreierbeziehung und ist Dozent an der Kieler Uni. Als seine «Olen» nicht mehr allein klarkommen, kehrt er dem Stadtleben kurzentschlossen den Rücken und fährt in sein Heimatdorf Brinkebüll im nordfriesischen Hinterland.

Dort erkennt er den Ort seiner Kindheit kaum wieder: Schwerverkehr rollt durchs Dorf, kaum jemand ist zu sehen, viele Türen sind verrammelt, weil die Menschen fortgezogen sind. Die Störche, die Dorfkastanie, die Schule und der Tante-Emma-Laden – nichts ist mehr da. Wann begann der Niedergang? In den 1970er Jahren, als die Flurbereinigung ganze Landstriche nach Reissbrettlogik vereinheitlichte und aus krummen Landstrassen schnurgerade Schnellstrassen machte? Als die grossen Höfe die kleinen Bauern verdrängte? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und seinen «Vadder» mit dem Landgasthof sitzen liess?

In Brinkebüll wird Ingwer klar, dass er schon viel zu lange nicht mehr da war. Vater Sönke harrt stur hinter dem Tresen aus, obwohl längst keine Gäste mehr kommen. Mutter Ella versinkt immer tiefer in der Demenz. Rasch merkt Ingwer, dass die Sache mit der Angehörigenpflege nicht so leicht ist, wie er gedacht hatte. Während er sich in der erstarrten Welt seiner «Olen» einlebt, stolpert er über Relikte aus einer Vergangenheit, die auch seine eigene ist. Dabei erkennt er, dass er längst nicht alle Geheimnisse gelüftet hat.

Erst als sie demenzkrank ist, offenbart Ella Feddersen (Hildegard Schmahl) ihrem Ingwer das ein oder andere Geheimnis. Majestic / Christine Schroeder

Mit «Mittagsstunde» ist Regisseur Lars Jessen eine melancholisch-schöne Erzählung über die Menschen Nordfrieslands gelungen, die nicht viel reden, aber füreinander da sind. Basierend auf dem Bestseller von Dörte Hansen geht der Film auch der Frage nach, wer wir als Individuen und Gesellschaft sein wollen und wo wir zuhause sind.

Dörte Hansens «Mittagsstunde» habe ihn kalt erwischt, sagt Lars Jessen. Denn in dem Roman ging es nicht nur um ein Thema, das ihn seit Jahren beschäftigte – das Aussterben der Landgasthöfe in Schleswig-Holstein; er fand sich auch persönlich in Hansens brillanter Milieuschilderung des ländlichen Lebens wieder. Mit neun Jahren war er mit seiner Mutter nach Dithmarschen in eine Aussteigerkommune gezogen. Im örtlichen Landgasthof fand er eine «hinter Panzerglas versteckte Herzlichkeit», die ihn damals rettete. Wie Ingwer Feddersen durfte auch Lars Jessen als einziges Kind aufs Gymnasium. Seine Bindung zum Dorf blieb trotz Wegzug erhalten.

Erlebt hat Jessen auch die Umgestaltung durch die Flurbereinigung: «Die Asphaltierung der Dorfstrasse, die immer grösser werdenden Felder und Landmaschinen, die Neubaugebiete, der Niedergang der Höfe und des Gasthofs habe ich als Kind und Jugendlicher hingenommen.» Wie tiefgreifend der Wandel war, sei ihm erst im Rückblick klar geworden.

In Brinkebüll auf Spurensuche: Ingwer stolpert über Relikte einer untergegangenen Welt.Majestic / Christine Schroeder

Wie die Romanvorlage spielt auch der Film auf drei Zeitebenen: 1965, 1976 und 2020. Dafür sucht Jessen drei Dörfer aus, die sich leicht in die jeweilige Zeit zurückversetzen lassen. Für den Dreh werden stark befahrene Strassen gesperrt und heute verschwundene Dorfbestandteile wiederbelebt. Plötzlich ist eine alte Lebensart wieder möglich: der Schnack beim Bäcker und in der Kneipe, gefahrloses Spielen auf der Strasse und Einkaufen im Dorfladen um die Ecke. Das lässt auch die Anwohner:innen nicht kalt. «In diesen Momenten spürten die Menschen, die uns bei der Arbeit zugeschaut haben, ebenso wie wir, was da verloren gegangen ist», vermutet Jessen, «und was sie dafür bekommen haben: Neubaugebiete, grosse Fernseher, gesichtslose Discountermärkte und LKWs, die den täglichen Spaziergang zur lebensgefährlichen Angelegenheit machten.»

Teil der Lebensweise und Identität ist auch die Sprache: Es wird Platt gesnackt. Tatsächlich hat Jessen jede Szene des Films zweimal drehen lassen – einmal auf Hochdeutsch und einmal auf Platt. Die Schauspieler:innen mussten nicht nur die nüchterne, wortkarge Art ihrer Charaktere verkörpern und deren Beziehung zueinander durch subtile Körpersprache zeigen, sondern auch fehlerfrei Platt sprechen. Eine gewaltige schauspielerische Leistung.

Im Gasthof hält nur noch ein alter Stammgast Sönke Feddersen (Peter Franke) die Treue: der ehemalige Bürgermeister, der damals die Flurbereinigung vorangetrieben hat.Majestic / Christine Schroeder

Diese Leistung ist es auch, was «Mittagsstunde» zu einem so authentischen und berührenden Film macht. Obwohl sich Charly Hübner als Ingwer Feddersen und Gro Swantje Kohlhof als dessen Mutter Marrett auf dem Set nie begegnet sind, ziehen sie sich trotzdem gegenseitig durch den Film «wie zwei Tänzer an unsichtbaren Seilen», verbunden durch die geschickt miteinander verwobenen Zeitebenen. Stark ist auch die Bildsprache: Die Seele des Dorfes und seiner Bewohner:innen, die Trauer über den Niedergang einer alten Lebensart und die unaufhaltsame Dynamik der Veränderung spiegelt sich in jeder Einstellung.

Am 22. September 2022 ist «Mittagsstunde» in den deutschen Kinos angelaufen. Für Lars Jessen ist es ein besonderer Film, der nicht nur mit seiner eigenen Geschichte zu tun hat, sondern auch zum Nachdenken anregen soll: «Im günstigen Fall liefert ‹Mittagsstunde› einen kleinen Beitrag zur Beantwortung der grossen gesellschaftlichen Frage, die uns die zahllosen Krisen unserer Zeit abverlangt: Wie wollen wir leben?»