Fachleute wissen heute, was Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen empfinden und welche Art der Anteilnahme eine wertvolle Unterstützung bedeutet. Für die bestmögliche Lebensqualität ist es essenziell, einfühlsam zuzuhören und zu reden. Man soll die Betroffenen nach ihren Ängsten und Wünschen fragen, ihre Worte jedoch nicht immer wörtlich nehmen.
«Reden über Demenz»
Das Buch richtet sich an Angehörige von Demenzkranken, an Gerontologen, Pflegefachleute sowie Ärztinnen und Ärzte. Das Thema wird von Fachleuten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Ein Porträt und eine Reportage sowie Stimmen von pflegenden Angehörigen zeigen den alltäglichen Umgang mit Demenzkranken.
Mit Beiträgen von Monika Obrist (Vorwort), Dr. med. Irene Bopp-Kistler, Prof. Dr. theol. Ralph Kunz, Dr. med. Roland Kunz, Regula Bockstaller, Ursula Zarth, Martin Mühlegg, Fabio Schmieder, Angelika U. Reutter, Anne Rüffer, Sabine Arnold, Elena Ibello, Felix Ghezzi. Das Buch erscheint Mitte Oktober und kann hier direkt bestellt werden: info@ruefferundrub.ch oder telefonisch unter 044 381 77 30.
Elena Ibello, Anne Rüffer (Hg.) | Reden über Demenz | 168 Seiten | Broschur | ISBN 978-3-906 304-29-8 | CHF 19.80 | rüffer & rub Sachbuchverlag.
Wann beginnt die palliative Begleitung eines Demenzerkrankten?
Monika Obrist*: Eine solche Begleitung ist schon sehr früh gefragt. Ich erinnere mich an ein Ehepaar, der Mann hatte die Diagnose erhalten. Er war frisch pensioniert und sehr sportlich. Jeden Tag fuhr er mit dem Fahrrad von Zürich nach Schaffhausen und wieder zurück. Er vergass dann immer öfter, sich zu duschen, zu essen. Von da an kamen wir zum Einsatz.
Das war für ihn im ersten Moment sehr schambehaftet: Mir muss doch niemand helfen. Auf meine Frage: Wie ist es für Sie, diese Diagnose zu haben, zu wissen, ich vergesse Dinge?, hat er geweint und es im nächsten Moment wieder vergessen. Wichtig ist: Wie können wir damit umgehen, einen Betroffenen nicht zu beschämen, ihm wirklich den ganzen Respekt zu zeigen und ihm zu helfen, das Leben im Griff zu behalten – das ist Palliation im besten Sinne.
Angelika U. Reutter**: Dazu gehört meiner Meinung nach auch, dass ich als betreuende Person nicht immer alles wörtlich nehme. Dazu ein Bespiel: Eine ältere Dame mit Demenz sagte zum Pfleger: «Ich will nach Hause, ich will meine Tochter sehen.» Hätte der Pfleger das wörtlich genommen und erklärt, dass die Tochter in Australien wohne und sie sich doch beruhigen solle, wäre er nicht verstanden worden.
Sondern man muss herausfinden, was möchte diese Frau eigentlich sagen? Sie meint mit «nach Hause» Heimat, sie hat Sehnsucht nach ihrer Tochter. Der Pfleger stand auf, nahm sie am Arm und sagte: «Ihre Tochter hat Ihnen schöne Blumen gebracht, und wir gehen jetzt zu den Blumen Ihrer Tochter.»
Aussagen wörtlich nehmen will die intellektuelle Sprache, und wenn die wegfällt, braucht man eine andere Form – die Seelensprache.
Obrist: Diese Erfahrung mache ich auch immer wieder. Wenn man sich neben die Person stellt und sie im übertragenen Sinn nach Hause begleitet, dann fühlt sie sich auch wirklich verstanden.
Wie wichtig ist es, Menschen nach ihren Wünschen zu fragen, auch wenn sie geistig wegen ihrer Krankheit beeinträchtigt sind?
Obrist: Dies ist besonders wichtig, wenn das Leben zu Ende geht. Ich spreche die Vorstellungen und die Perspektive an. Wenn ich frage: Gibt es etwas, das Ihnen Angst macht, gibt es etwas, worüber Sie sprechen möchten? Gibt es etwas, was ganz besonders wichtig ist für Sie, was ist für uns wichtig zu wissen? Dann drücken sich die Menschen aus und teilen ihre Bedürfnisse mit. Das gilt für alle Menschen, egal, ob sie an einer Demenzerkrankung leiden oder an einer anderen Krankheit.
Reutter: Es geht darum, Fragen zu stellen, anstatt stets Antworten bereitzuhaben – sei es in Form einer Diagnose oder: Zur Sicherheit sollten Sie das und das tun. Damit erreiche ich den Menschen nicht in seiner Seele. Man kann feinfühlig erfragen, was für diesen Menschen jetzt angebracht ist.
Obrist: Bei vielen existiert zum Beispiel der Wunsch, zu Hause zu bleiben. Aber alle wissen, es ist schwierig: zu viele Treppen im Haus, oder die Ehefrau hat keine Kraft mehr. Also: Wie viel würden Sie investieren, um zu Hause bleiben zu können? Wenn Sie nur noch im Erdgeschoss sein können, würden Sie dann auch zu Hause bleiben wollen? Anhand der Antworten erfährt man, was für diesen Menschen wirklich von Belang ist.
Reutter: Mit «Wie viel würden Sie investieren?» spricht man den anderen im Rahmen seiner Möglichkeiten und seiner Willensenergie an. Also bei der Realität. Wichtiger als ‘Was fehlt Ihnen?’ ist die Frage: Was brauchen Sie?
Obrist: Aber es geht auch darum, dass dem Patienten bewusst wird, es braucht ein Investment: Wie viel Kraft habe ich, und wo ist eine Grenze gegeben? Dann kann man über diese Grenze sprechen – im positiven Sinn; aus der Kraft heraus, aus dem Willen heraus. Nicht aus einem Defizit heraus. Das macht einen Unterschied, finde ich.
Reutter: Das macht einen grossen Unterschied, denn es sind, egal, wo ein Mensch steht, noch sehr viele Kräfte da, auch wenn die Worte fehlen. Die Seelenkraft wieder zu erspüren, das macht sowohl die erkrankte Person wie auch mich als begleitenden Menschen glücklich.
Heisst das: Auch wer palliativ begleitet wird, kann Hoffnung haben?
Obrist: Oft hört man: «Wer auf eine Palliativstation verlegt wird, für den gibt es keine Hoffnung mehr, sondern nur noch das Lebensende.» Das ist überhaupt nicht so. Wenn man mit diesen Menschen über das Leben spricht, über ihre Vorstellungen und Hoffnungen, dann zeigen sich die ganzen Möglichkeiten, die das Leben noch bietet und die es auszuschöpfen gilt. Hoffnung ist eine so wertvolle Kraft. Man kann ja nicht nur auf Heilung oder darauf, gesund zu werden, hoffen. Hoffnung ist viel umfassender.
Reutter: Das ist in meiner therapeutischen Arbeit ein wichtiger Ansatzpunkt: Wenn wir versuchen, eine neue innere Haltung zu finden, nämlich hin zur Entwicklung des Menschen, und uns fragen: Wie viel Entwicklung ist in dieser Situation möglich?, dann eröffnen sich völlig neue Perspektiven von Hoffnung.
Definition der Palliation
Alle Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen. Nach WHO: Die Palliativbetreuung dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Palliation bezeichnet medizinische Massnahmen, deren primäres Ziel nicht der Erhalt, die Heilung oder die Wiederherstellung der normalen Körperfunktion, sondern deren bestmögliche Anpassung an die gegebenen Verhältnisse ist.
Es gilt zu verstehen: Ich habe einen individuellen Entwicklungsweg, dazu gehören Höhen und Tiefen des Lebens. In dieser schweren Zeit schaue ich, was brauche ich physisch und emotional, was brauche ich in der Seele. Welche Bedürfnisse habe ich geistig und spirituell? Diese Überlegungen führen immer zu Hoffnung auf Leben, auch wenn man krank ist.
Und wie spricht man mit Menschen, die sich wegen der Demenz nicht mehr oder fast nicht mehr ausdrücken können?
Reutter: Indem man zuerst den Raum dazu schafft, und da gehört die Stille dazu, das Schweigen. Behutsames Sprechen ist gefragt, in einer Tonalität, die der Situation angepasst ist. Ich kann nicht von aussen her sprechen, plakativ; ich muss erspüren, was möchte diese Seele gerne hören, passt es oder passt es nicht. Der Impuls kommt immer von innen, und im entscheidenden Moment weiss ich das.
Beim Sprechen ist entscheidend, dass ich das erzähle, was ich wirklich sehe und empfinde. Zum Beispiel diesen Blumenstrauss auf dem Tisch, die Blüte einer Rose, und ich beschreibe diese Rose, wie sie aussieht, wie sie duftet.
Obrist: Ich erinnere mich an eine Frau, die von ihrem Mann zu Hause gepflegt wurde. In einem Stadium der Demenz war sie nahezu unbeweglich, sie sprach nicht mehr und sie war fast nicht zugänglich. Manchmal verharrte sie starr mitten im Raum mit verdrehten Bewegungen.
Die Schwierigkeit war, dass ich nur eine Stunde Zeit für die Pflege hatte. Und genau in dieser Stunde hatte sie wahrscheinlich überhaupt keine Lust, sich waschen und anziehen zu lassen. Wenn wir Bewegungen, die sie gemacht hatte – auch wenn sie noch so klein waren – aufnahmen und mit ihr mitgingen, wurde sie zugänglich. Auf diese Art haben wir uns wortlos mit ihr verständigt.
Reutter: Vergessen wir nicht die Berührung, denn eine Berührung gibt Halt und Sicherheit, und das verbindet man auch mit einem – ich sag es in diesem Wort – Gottesgefühl. Für viele ältere Menschen, nicht nur solche mit Demenz, ist das grösste Leiden, nicht auf der Haut berührt, nicht umarmt zu werden. Diese Resonanz gibt Geborgenheit und ist lebenswichtig.
Resonanz entsteht ja nicht nur über Worte, sondern auch durch eine liebevolle Berührung, durch einen wohlwollenden Blick.
Oft hört man, demente Menschen haben kein Bewusstsein, keinen Geist mehr und folglich auch keine spirituellen Bedürfnisse …
Obrist: Das finde ich eine unhaltbare Unterstellung. Bei vielen Menschen die ich selber betreute, bestand eine grosse Empfänglichkeit für Musik, auch für Stimmungen, für Bilder. Das spürt man, auch wenn sie sich nicht zu spirituellen Bedürfnissen äussern. Dass sie diese nicht mehr haben, glaube ich wirklich nicht.
Reutter: Häufig wird Geist und Intellektualität gleichgesetzt. Das ist in meinen Augen eine Anmassung. Der Geist ist bei Demenzerkrankten nach wie vor da, und die Seele verstummt nicht, nur das Gehirn und die Funktionen der Intellektualität sind durcheinandergeraten.
Wenn man aber weiss, dass Bewusstsein im ganzen Körper entsteht – Berührung, Klang, Worte – und dass die Menschen auf ihre Art darauf reagieren, dann ist es naheliegend, dass das Spirituelle genau dann besonders wichtig wird.
Obrist: Spiritualität kommt nicht aus dem luftleeren Raum. Das hängt mit der Lebensgeschichte zusammen. Bei einer Patientin musste neben dem Bett immer ein Kreuz hängen, das durfte niemand wegnehmen. Sie sprach nicht mehr darüber und konnte es nicht ausdrücken, aber es war offensichtlich, wofür es stand: Gottesnähe, Geborgenheit, Spiritualität.
Wie entfaltet sich Spiritualität?
Obrist: Indem man sich wirklich in Ruhe darauf einlässt, einer Person zuhört und Zeit gibt. Es ist manchmal schwierig zu sagen, jetzt gehst du zu dieser Patientin und bist einfach da und vergisst die Zeit, bist einfach präsent und hörst zu. Das hat viel mit Intuition zu tun.
Ich erinnere mich an eine demente ältere Dame. Sie hat gesummt, ich habe mitgesummt. Später habe ich in ihrer Schublade ein uraltes Kinderliederbuch gefunden und habe es ihr in die Hände gegeben. Dann habe ich ein Lied daraus gesungen, und sie hat mitgesungen; ihr Gesicht hat gestrahlt. Das habe ich mir vorher nicht überlegt, es ist einfach intuitiv entstanden.
Reutter: Wenn man ein solches Zimmer betritt, geht man in eine andere Welt, in eine zeitlose Zeit. Da gibt es keine chronologische Zeit, mit der wir sonst agieren. Deshalb muss man lernen, wie komme ich selber wieder zur Ruhe, wie kann ich wirklich präsent sein? Wer ist das schon?
Innerlich kreisen unsere Gedanken – nachher habe ich wieder einen Termin, Herr X wartet … – und jetzt soll ich da reingehen und völlig ruhig sein?
Wenn ich sehr nervös bin, gilt es herauszufinden, was ich tun kann, um mich besser auf diesen Menschen einzustimmen.
Als ganz wesentlich erachte ich, sich immer wieder nach innen zu wenden, zu lernen, auf die innere Stimme zu hören, also auf sein Herz. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als sich immer wieder zu hinterfragen. Auf eine gute Art, nicht grüblerisch, sondern ernsthaft: Was will mir das Ganze sagen, wie kann ich mehr und tiefer zu mir selbst kommen?
Innere Ruhe ist das, was wir alle suchen, ob gesund oder krank. Gerade Menschen, denen die Worte fehlen, spüren sehr genau, ob die betreuende Person bei sich ist; falls nicht, reagieren sie abwehrend und ängstlich, geraten noch mehr in diese Isolation, die so schmerzhaft ist. Deshalb kann eine dem Patienten wohltuende Atmosphäre nur entstehen, wenn ich ganz bei mir bin.
Beansprucht das nicht viel Zeit, welche dann für die Betreuung fehlt?
Obrist: Das ist ein Thema, das in Pflegekreisen intensiv diskutiert wird, weil wir sehen, dass viel zu wenig Zeit in den Heimen gegeben ist.
Reutter: Ich appelliere an alle, keine Ausreden mehr zu benutzen in Bezug auf mangelnde Zeit, denn es braucht diesen einen Moment der echten, tiefen Präsenz. Man könnte auch sagen, den Moment der Menschlichkeit.
Obrist: Dem pflichte ich bei. Es geht darum, mit der Zeit, die mir zur Verfügung steht, einen anderen Umgang zu finden.
Dazu braucht es die Kompetenz, die richtigen Dinge zu tun und genau zu spüren, was für den Patienten wirklich wichtig ist und was nicht.
Oder dass man einen Mann, der immer unruhig durch die Gänge tigert an den Händen nimmt und ihn ein Stück begleitet. Das sind kurze Momente, die den Menschen viel Ruhe geben. So kann man mit wenig Zeit ganz viel an Ruhe und Angenommen-Sein schaffen.
Dies verlangt allerdings den Mut, sich nicht von der Routine einer Pflegestation bestimmen zu lassen, sondern der eigenen Intuition zu folgen.
Reutter: Es braucht auch Demut. Das Wort bedeutet ja, Mut zum Du. Also zu dem Menschen, der mir gegenüber ist und den ich wahrnehme, da, wo er emotional ist. Sind Menschen um mich, die spüren, wie ich mich fühle, ist das eine Wohltat, das schafft Resonanz und eine vertrauensvolle Atmosphäre.
Wenn ein Mensch die Worte nicht mehr findet, sich nicht mehr verständlich ausdrücken kann, dann ist die Begegnung mit einem Menschen, der weiss, wo man ist, wie ein Stück nach Hause kommen.