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Dankbarkeit

Madame Seld jongliert mit Worten

«Alt werden heisst verlieren lernen», schreibt Delphine de Vigan in ihrem Roman. Das bedeutet, Defizite und Beeinträchtigen zu verkraften, sich arrangieren müssen, jeden Tag neu. Bild Daniel Kellenberger

Wie kann es gelingen, im Alter trotz Einschränkungen und Verlusten dankbar zu sein? Darüber schreibt die Französin Delphine de Vigan in ihrem neuen Roman.

Die alte Dame steht hilflos vor der Direktorin des Heims und streckt die Arme hoch. Die Direktorin fällt ein vernichtendes Urteil: Madame Seld habe viel von ihrer Gelenkigkeit eingebüsst, dieser «spektakuläre Niedergang» passiere häufig bei Menschen, die ins Heim kommen.

Dazu Autonomieverlust bei der Köperpflege, beim Anziehen, beim Essen, bei der Sprachfähigkeit. Und wie kann Madame Seld es nur wagen, eine Whiskyflasche in ihrem Zimmer zu verstecken? Auch das ist der Direktorin nicht entgangen, wozu hat sie einen gründlich arbeitenden Geheimdienst. Die alte Dame ist wie vor den Kopf gestoßen.

Realität oder Fantasie? Es ist nur einer der vielen Alpträume, die Michka Seld begleiten, seit sie im Altenheim wohnt.

Der Traum spiegelt ihre Ängste wie unter einem Brennglas wider: dass sie immer mehr von ihrer Eigenständigkeit einbüsst, dass sie keine «gute» Heimbewohnerin ist und die Achtung ihrer Umgebung verliert. Eines wiegt für sie, die früher als Korrektorin bei einer großen Zeitschrift gearbeitet hat, besonders schlimm: dass sie zunehmend ihre Worte verliert.

Delphine de Vigan.Bild Delphine Jouandeau

«Dankbarkeiten» heißt der neue Roman der französischen Autorin Delphine de Vigan, der von Mitgefühl, Würde und Verlusten erzählt. Obwohl wir den allmählichen Verfall eines alten Menschen erleben, ist der Grundton nicht von Traurigkeit, sondern von Warmherzigkeit geprägt.

Ein Roman, der Trost spendet, anrührend ist, gelegentlich auch etwas rührselig – «Dankbarkeiten» muss zweifellos zur feel-good-Literatur gerechnet werden. Trotzdem gibt das Buch auf einfühlsame Weise Zuspruch, etwas, das so häufig fehlt, wenn vom Alter die Rede ist.

Zwei Menschen sind es, die der Seniorin über den Tag hinweg helfen, die ihr aufmerksam zuhören und nicht in den üblichen Floskeln  stecken bleiben. Sie geben ihr das Gefühl, eine Bereicherung zu sein und nicht eine Last. Oft sind sie ebenfalls hilflos, wenn die alte Frau wieder einmal nach Worten ringt, aber sie lassen es sich nicht anmerken.

Da ist Marie, die früher, als Kind, im selben Haus wie Michka Seld gewohnt hat. Als Kind war Marie viel allein, und Madame Seld hat sie häufig bei sich aufgenommen. Und da ist Jérôme, der Logopäde, der mit ihr Sprachübungen macht – Madame Seld leidet unter einer beginnenden Aphasie.

Oft fallen ihr ganze Wörter nicht ein, bisweilen ersetzt sie ein Wort durch ein anderes oder tauscht Buchstaben aus. Dann sagt sie nicht okay, sondern oje. Oder dante statt danke. So jongliert sie mühsam mit der Sprache herum, ein ziemliches Wort-Gestöber in ihrem Kopf.

Doch manchmal drehen sich die Rollen um. Dann ist es nicht Madame Seld, die Antworten gibt, die dabei um Worte ringt, sondern sie selbst stellt die Fragen. Sie hat nämlich ein feines Gespür dafür, dass auch Marie und Jérôme Brüche in ihren Lebensgeschichten haben.

Jérômes Mutter ist bereits gestorben, zu seinem Vater hat er keinen Kontakt. Warum nicht? Madame Seld will es genau wissen und ermuntert ihn, den Kontakt wieder aufzunehmen, bevor es zu spät ist. Für einen Moment wird sie zur Therapeutin ihres Logopäden.

Das Gefühl, dass es etwas Unerledigtes im eigenen Leben gibt: Auch Madame Seld kennt das allzu gut. Ihre Eltern sind als Juden im Konzentrationslager umgekommen.

Sie selbst wurde als Mädchen von einem jungen Paar aufgenommen und versteckt, drei Jahre lang. Nach dem Krieg hatte sie keinen Kontakt mehr zu dem Paar, dem sie ihr Leben verdankt.

Später versucht sie vergeblich, die beiden zu finden, von denen sie nur die Vornamen kennt. Auch jetzt, da sie alt ist, hat Madame Seld den tiefen Wunsch, sich bei ihren Rettern zu bedanken. Sie bittet Marie, eine Suchanzeige aufzugeben. Und schliesslich fährt Jérôme selbst los, um das Paar zu finden.

«Alt werden heisst verlieren lernen», schreibt Delphine de Vigan in ihrem Roman. Das bedeutet, Defizite und Beeinträchtigen zu verkraften, sich arrangieren müssen, jeden Tag neu.

Aber es gibt auch etwas, das den Kummer über die Verluste erträglicher macht: Dankbarkeit.

Dankbarkeit für Menschen, die einem wohlgesonnen sind, die einen stützen, so wie es Marie und Jérôme tun. Diese Dankbarkeit ist es, die Madame Seld am Leben hält. Und die ihr dabei hilft, in Frieden sterben zu können.