Die alte Dame steht hilflos vor der Direktorin des Heims und streckt die Arme hoch. Die Direktorin fällt ein vernichtendes Urteil: Madame Seld habe viel von ihrer Gelenkigkeit eingebüsst, dieser «spektakuläre Niedergang» passiere häufig bei Menschen, die ins Heim kommen.
Dazu Autonomieverlust bei der Köperpflege, beim Anziehen, beim Essen, bei der Sprachfähigkeit. Und wie kann Madame Seld es nur wagen, eine Whiskyflasche in ihrem Zimmer zu verstecken? Auch das ist der Direktorin nicht entgangen, wozu hat sie einen gründlich arbeitenden Geheimdienst. Die alte Dame ist wie vor den Kopf gestoßen.
Realität oder Fantasie? Es ist nur einer der vielen Alpträume, die Michka Seld begleiten, seit sie im Altenheim wohnt.
Der Traum spiegelt ihre Ängste wie unter einem Brennglas wider: dass sie immer mehr von ihrer Eigenständigkeit einbüsst, dass sie keine «gute» Heimbewohnerin ist und die Achtung ihrer Umgebung verliert. Eines wiegt für sie, die früher als Korrektorin bei einer großen Zeitschrift gearbeitet hat, besonders schlimm: dass sie zunehmend ihre Worte verliert.
«Dankbarkeiten» heißt der neue Roman der französischen Autorin Delphine de Vigan, der von Mitgefühl, Würde und Verlusten erzählt. Obwohl wir den allmählichen Verfall eines alten Menschen erleben, ist der Grundton nicht von Traurigkeit, sondern von Warmherzigkeit geprägt.
Ein Roman, der Trost spendet, anrührend ist, gelegentlich auch etwas rührselig – «Dankbarkeiten» muss zweifellos zur feel-good-Literatur gerechnet werden. Trotzdem gibt das Buch auf einfühlsame Weise Zuspruch, etwas, das so häufig fehlt, wenn vom Alter die Rede ist.
Zwei Menschen sind es, die der Seniorin über den Tag hinweg helfen, die ihr aufmerksam zuhören und nicht in den üblichen Floskeln stecken bleiben. Sie geben ihr das Gefühl, eine Bereicherung zu sein und nicht eine Last. Oft sind sie ebenfalls hilflos, wenn die alte Frau wieder einmal nach Worten ringt, aber sie lassen es sich nicht anmerken.
Da ist Marie, die früher, als Kind, im selben Haus wie Michka Seld gewohnt hat. Als Kind war Marie viel allein, und Madame Seld hat sie häufig bei sich aufgenommen. Und da ist Jérôme, der Logopäde, der mit ihr Sprachübungen macht – Madame Seld leidet unter einer beginnenden Aphasie.
Oft fallen ihr ganze Wörter nicht ein, bisweilen ersetzt sie ein Wort durch ein anderes oder tauscht Buchstaben aus. Dann sagt sie nicht okay, sondern oje. Oder dante statt danke. So jongliert sie mühsam mit der Sprache herum, ein ziemliches Wort-Gestöber in ihrem Kopf.