Wendy Mitchell ahnt schon länger, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie ist oft müde, hat Schwindel und vergisst Dinge, die sie früher nicht vergessen hat. Vor ihrem Bett liegen viele gelbe Klebezettel. Auf ihnen notiert sie die Dinge, die sie am nächsten Tag zu erledigen hat.
Damit sie in ihrem Job als Teamleiterin im National Health Service von York (England) noch zurechtkommt, macht sie heimlich viele Überstunden.
Auf einer Jogging-Runde stürzt Mitchell und verletzt sich im Gesicht. Nachdem sie verarztet worden ist, geht sie zurück zum Unfallort. Bestürzt stellt sie fest, dass sie nicht über ein Hindernis gestolpert ist, sondern die Kontrolle über ihre Beine verloren hat.
Bald schnürt sie wieder ihre Laufschuhe und verliert wieder den Boden unter den Füssen.
Nach dem dritten Sturz verstaut sie ihre Laufschuhe im Schrank – im Wissen, dass es das letzte Mal ist. Diesem Abschied werden im Laufe der Geschichte viele weitere folgen.
Demenz ist etwas für die Alten
Ihrem Hausarzt erzählt sie wohl von ihrer Müdigkeit und ihren körperlichen Ausfällen. Doch ihre Vergesslichkeit gibt sie nicht preis. Stattdessen druckst sie herum und denkt, Demenz gebe es nur bei alten Menschen – und nicht bei 58-Jährigen.
Eines Tages verliert sie bei der Arbeit die Kontrolle und fällt durch eine verwaschene Sprache auf. Ihre Kollegen schicken sie zum Check ins Spital.
Als sie dort einer Schlaganfall-Patientin den Trinkbecher reicht, fühlt sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit nicht mehr hilflos. Gleichzeitig realisiert sie, dass im Spital die Zukunft an Gewissheit verliert.
Bereits bevor ihr Buch «Der Mensch, der ich einst war – Mein Leben mit Alzheimer» erschien, ist Wendy Mitchell in England zu einer bekannten Demenz-Aktivistin geworden. Der Grund dafür ist ihre optimistisch-pragmatische Einstellung, die sich als roter Faden durch das Buch zieht.
Nach neurologischen Untersuchungen, die in Vermutungen münden und einem Jahr der Ungewissheit folgt 2014 die Diagnose Alzheimer.
«…puff, alles ist weg»
Als freiwillige Bäckerin für Obdachlose findet sie eine Samstagsbeschäftigung, die sie erfüllt. Lange geht dies nicht gut: Sie versalzt Kekse oder nimmt einen matschigen Klumpen statt eines luftigen Biskuits aus dem Ofen.
«Früher hatte ich alles im Kopf, jetzt befolge ich das Rezept im Buch, und sobald ich umblättere, puff, ist alles weg», schreibt sie über diese Erfahrung. Bald verabschiedet sie sich auch von dieser Tätigkeit, die sie ein Leben lang mit Können und Leidenschaft ausgeführt hat.
Jetzt packt Wendy die Dinge an, die zu erledigen sind: Gespräche mit ihren beiden Töchtern, das Ausfüllen einer Patientenverfügung und die Umstellung des Alltags.
Sie überlegt sich, mit ihren beiden Töchtern in die Schweiz zu fahren und dort (begleitet) aus dem Leben zu scheiden. Doch eine Rückfahrt zu zweit will sie ihren Töchtern – eine davon ist Pflegefachperson – nicht zumuten.
Stattdessen sucht sie nach Wegen, wie sie ihr Leben besser organisieren kann. Sie entdeckt das iPad als praktischen Helfer und stellvertretendes Gedächtnis. Der Wecker dieses Gerätes erinnert sie daran, ihren Abfall herauszustellen, Termine einzuhalten und regelmässig zu essen.
Sie richtet ein Erinnerungszimmer ein, in dem sie an Wäscheleinen Fotos von ihren Lieben und schönen Erlebnissen aufhängt. Auf die Rückseiten der Bilder notiert sie Anknüpfungspunkte, die ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.
«Wenn immer ich mich verliere, setzte ich mich in den Raum», so Mitchell in einem Interview. «Dann weiss ich wieder, wer ich bin und fühle mich besser. Jeder sollte Fotos von seinen Lieben aufhängen. Mit lachenden Gesichtern um dich kannst du dich sofort besser fühlen.»
Schreiben hilft gegen das Vergessen
Zur weiteren kognitiven und seelischen Hilfe wird das Schreiben: «Wenn ich nichts aufschreibe, vergesse ich all die wunderbaren Dinge, die ich erleben darf. Die Emotionen verlieren wir nie, aber die Details.»
Seit längerem schreibt die mittlerweile 63-Jährige einen Blog. Das Buch «Der Mensch, der ich einst war» entstand in Zusammenarbeit mit der Autorin Anna Wharton.
«Wenn immer die Leute das Wort Demenz hören, denken sie ans Ende, ans letzte Stadium der Krankheit», so Mitchell. «Sie vergessen, dass es einen Anfang und eine Mitte gibt. Es gibt immer noch so viel Leben, das zu leben ist. Vergiss all die Sachen, die du nicht mehr machen kannst. Konzentriere dich auf das, was du machen und geniessen kannst!»
In diesem Sinne ist Mitchells Buch ein gescheiter Mutmacher. Er ist bepackt mit hunderten von Tipps (Neudeutsch: Lifehacks), die dem Vergessen trotzen und das Leben mit einer Demenz vereinfachen.