Dies ist für mich der Schlüsselsatz des Buches, das ich in den Ferien gelesen habe – und ich lese sonst keine Fachbücher in den Ferien. Das Büchlein beschreibt in Briefausschnitten die Zeit, in der Walter Jens an einer Demenz erkrankt war. Es sind Briefe, die seine Ehefrau Inge an verschiedene Personen aus ihrem Umfeld geschrieben hat. Die Ausschnitte beziehen sich immer auf Walter Jens und seinen krankheitsbedingten Zustand.Aber er ist ein Mensch… und das ist das grosse Erlebnis für mich: bis zu welchen ‹Tiefen› ein Mensch ein Mensch bleibt.
Anfangs spürt man, mit welchen Schwierigkeiten die Ehefrau zu kämpfen hatte. Der Verlust des Intellekts wurde für nicht vorstellbar und nicht möglich gehalten. Das Ehepaar, dessen Leben das Denken war, konnte sich nicht mehr auf dieses Denken verlassen. Und in diesem Dilemma bewegt sich die Autorin zu Beginn. Irgendwann tritt eine Veränderung ein.
Denn wenn die Akzeptanz der Erkrankung in den Vordergrund tritt, wenn die intellektuelle Auseinandersetzung einer pragmatischen Haltung Platz macht, dann spürt man Veränderung in der Einstellung. Es beginnen sich kleine Lösungen im Alltag durchzusetzen, die in ihrer Wirkung Grosses bedeuten. Der Lebensrhythmus von Walter wird bestimmend, und eine Bäuerin kann ihm auf eine wundersame Weise begegnen. Sie macht nichts anderes, als dass sie ihn nicht an dem misst, was und wie er einmal war, sondern sie nimmt ihn so, wie er jetzt ist – und das als ganzen Menschen.
Immer wieder zeigt sich in den Briefen, wie sehr die kleinen Schritte zu «Lösungen» beitragen und nicht die grossen Konzepte. Vor allem an den Beispielen aus dem Krankenhaus kann man dies deutlich sehen. Sehen kann man auch, wie eine hochtechnisierte Apparatemedizin zwar sinnvoll sein kann, aber gänzlich versagt, wenn das Naheliegende dem Menschen nicht gegeben werden kann.
Ein weiterer Punkt, der dem Buch einen thematischen Leitfaden gibt, ist das Sterben. Es sind Fragen des Todeswunsches, ob und wie den Wünschen eines Kranken mit Nachdruck begegnet werden kann. Frau Jens fühlt dieses Dilemma, wenn ihr Mann sagt, dass er sterben will – sie seinen Lebenswillen aber deutlich spürt. Sie beschreibt eindrücklich diesen Aspekt und trägt dadurchzu einer vertieften Auseinandersetzung bei, wenn es um diese existentiellen Fragen von Lebenswille und Todeswunsch geht.
«Was lebt, will leben»: Dieser Satz wird zum Leitgedanken der Diskussion. So einfach wie dieser Satz ist, so eindrücklich ist dieses Buch, das Einblicke gibt auf sehr essentielle Art, die ich so sehr schätze.
Inge Jens, «Langsames Entschwinden», Vom Leben mit einem Demenzkranken, Rowohlt 2016
Hören Sie sich dieses Radiointerview mit Inge Jens an. Mit Dank an Radio SWR2.