Interview mit der Pflege-Aktivistin Leah Weigand
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Die schreibende Pflegerin

»Humor nimmt Stress raus«

Leah Weigand Pflegerin Autorin Poetry auf der Bühne.

Mit Poesie und Klartext ist Leah Weigand zu einer starken Stimme der Pflegenden geworden. Bild Yannic Steube

Leah Weigand hat als Pflegerin gearbeitet, schreibt Texte und ist eine gefragte Poetry Slammerin. Gerade hat sie ihr erstes Buch veröffentlicht. Im Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen als Pflegekraft und auf der Bühne.

demenzworld: Sie sind ausgebildete Gesundheits- und Krankenpflegerin, mittlerweile studieren Sie Medizin. Trauern Sie dem Pflegeberuf manchmal nach?

Leah Weigand: Ich habe schon gelegentlich Wehmutsmomente, vermisse meine alte Tätigkeit. Aber ich wollte gern tiefer einsteigen in die Medizin, als ich es als Pflegekraft tun konnte.

Was wollen Sie später anders machen als die Ärzte, denen Sie während Ihrer Ausbildung begegnet sind?

Ich habe zum Glück viele gute Ärztinnen und Ärzte kennengelernt, die Vorbilder für mich waren. Sie haben Pflegekräfte als Kollegen gesehen, denen man nicht einfach Befehle gibt, sondern mit denen man zusammen arbeitet. Manche Ärzte reduzieren ihre Patienten allerdings auf deren Krankheiten, sehen in erster Linie die kranke Lunge oder die kranke Niere und nicht den ganzen Menschen. Ein guter Arzt muss einfühlsam sein. Empathie trägt nach meiner Erfahrung entscheidend zum Heilungsprozess bei.

Haben Sie als Pflegerin unter den Hierarchien im Krankenhaus gelitten?

Manchmal schon, wenn ein Arzt oder eine Ärztin mich von oben herab behandelt hat. Das war nicht nur für mich demotivierend, sondern ging unter Umständen auf Kosten der Patientinnen und Patienten. Pflegerinnen sind meist sehr nahe dran an ihren Patienten, bekommen mehr von ihnen mit als die Ärzte. Das, was sie den Ärzten sagen, ist oft sehr wertvoll. Wenn eine Information untergeht, weil es gerade einen Disput zwischen Ärztin und Pfleger gibt, kann das für eine Patientin fatal sein.

Nicht nur die Ärzte, auch Patienten bringen mitunter erheblichen Stress für die Pflegekräfte. In Ihrem Text „Ungepflegt“, den Sie zunächst bei einem Poetry Slam vorgetragen haben, beschreiben Sie, wie Sie als Pflegerin bespuckt und belästigt wurden.

Das ist leider immer wieder vorgekommen, gerade wenn Patienten kognitiv eingeschränkt waren. Am Anfang meiner Ausbildung war ich in so einem Moment schockiert. Manchmal war ich sogar kurz davor loszuheulen und musste mich einen Augenblick zurückziehen. Als ich mehr Erfahrung hatte, konnte ich schneller Grenzen setzen, den Patienten klar zeigen, dass so etwas nicht geht.

Wurden Sie während Ihrer Ausbildung auf solche Situationen vorbereitet?

Nein. Ich hätte mir gewünscht, dass es dafür eine Supervision gibt, wir uns im Team darüber austauschen können. In der Pause habe ich dann schon mal einer Kollegin davon  erzählt und konnte mir etwas Luft machen.

War Ihre Tätigkeit insgesamt befriedigend für Sie, trotz des Stresses?

Auf jeden Fall. Ich habe von meinen Patienten viel zurückbekommen, Dankbarkeit erfahren. Wenn ich abends nach Hause kam, wusste ich, dass ich etwas Sinnvolles gemacht habe.

Dazu fällt mir ein Satz aus Ihrem Text »Ungepflegt« ein: »Und manchmal ist eine Minute nur zuhören das größtmögliche Glück.«

Wenn man sich ein paar Minuten Zeit nimmt, mit einer Patientin freundlich redet, kann man damit schon eine kleine Welt bewegen. Das kann sogar dazu führen, dass Schmerzen tatsächlich weniger werden. Mitunter habe ich meinen Patienten geradezu angemerkt, welche Pflegekraft morgens bei ihnen im Zimmer war, ob das eine fröhliche oder eher kantige Kollegin war. Das hat sich in den Gesichtern der Patienten gespiegelt, sie waren ganz anders drauf, wenn die Pflegerin gut gelaunt auf sie zugekommen ist. Es ist unglaublich, wie viel eine positive Ansprache ausmacht.

buch »EIn Wenig mehr wir – texte über menschlichkeit«

Leah Weigand (27) stammt aus einem Dorf in Mittelhessen. Nach einer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin begann sie 2022 ein Medizin-Studium. Nebenbei schreibt Weigand Texte und tritt seit 2017 regelmäßig als Poetry Slammerin auf, wofür sie mehrere Auszeichnungen bekam. Ihr erstes Buch »Ein wenig mehr Wir – Texte über Menschlichkeit« ist soeben im Knaur Verlag erschienen. Die Autorin lebt in Marburg.

Wie weit ist eine individuelle Pflege nach Ihren Erfahrungen im Krankenhaus-Alltag überhaupt möglich?

Das ist sehr unterschiedlich von Station zu Station. In manchen Abteilungen war es Fließbandarbeit, man geht von Zimmer zu Zimmer, misst Blutdruck, Temperatur etc. Da lernt man einen Menschen gar nicht kennen, das ist dann der Patient in Zimmer 23 am Fenster. Auf anderen Stationen, in denen ich weniger Zimmer betreuen musste, zum Beispiel auf der Intensivstation, hatte ich für jeden mehr Zeit.

Können Sie von einer Begegnung erzählen, die Sie besonders berührt hat?

Ich habe eine Zeitlang eine ältere Dame betreut, die morgens, wenn ich Frühdienst hatte, immer schon auf mich wartete. Sie strahlte mich an und sagte: »Der Engel ist wieder da.«

Wie viel Humor ist im Umgang mit den Patienten möglich?

Wenn ich mit einem lustigen Spruch in ein Zimmer kam, konnte ich schon mal ein Lächeln in ein Gesicht zaubern. Mitunter musste ich mit Patienten lachen, gerade wenn sie selbstironisch waren und sich über sich selbst und das Altwerden kaputt lachten. Einmal habe ich einem älteren Mann bei der Körperpflege geholfen und ihm die Socken ausgezogen, dabei fielen viele Hautschuppen von seinen Beinen ab. Er hat dann gesagt: »Oh, ein Schneegestöber.« Da mussten wir beide lachen. Humor nimmt eindeutig Stress raus.

In Ihrem Buch gibt es einen Text über Demenz, er heißt »Vergessenslücken«. Es geht um eine Frau, Klara, die Motten im Kopf hat, also zunehmend Dinge vergisst. Wie sind Ihre Erfahrungen mit Menschen mit Demenz ­– Stichwort personenzentrierte Pflege?

Man sollte sich für diese Menschen viel Zeit nehmen. Glücklicherweise lasse ich mich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Ich hatte oft schöne Momente, wenn ich in die Welten der Patienten eingetaucht bin. Eine Frau war sehr unruhig, hat die ganze Zeit ihren Mann gesucht, der aber schon verstorben war. Sie fragte immer wieder: »Wann kommt er, wann holt er mich ab?« Ich habe versucht, sie zu beruhigen. Wir haben über ihren Mann geredet, wie sie sich kennengelernt haben, das war für uns beide bereichernd.

Viele Menschen mit Demenz empfinden den Verlust von Autonomie als besonders einschneidend. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe oft erlebt, dass Patienten nicht verstanden haben, warum sie bei uns in der Klinik waren. Einige waren hingefallen, hatten sich etwas gebrochen und mussten operiert werden. Ich spürte ihre Verzweiflung, ihre Verunsicherung in der für sie völlig neuen Umgebung, sie hatten ihre Autonomie komplett verloren. Ich habe ihnen immer wieder geduldig erklärt, warum sie bei uns waren, habe ihnen möglichst viel Zuwendung gegeben, sofern das meine Zeit zuließ.

Leseprobe aus Leah Weigands Buch

Heute habe ich Motten im Kopf,
die Löcher in Synapsen beißen.
Sie ernähren sich von Stoffen, die Acetylcholine heißen.
Und ihr Mottendreck
bleibt dann als Plaque dort hängen.
Den macht keiner weg.

In den Neuronengängen.

Und ja, sie stehen auf altes Material,
die Synapsen-Motten,

und ich hatte nie die Wahl,

sie auszurotten.

Was müsste im Berufsalltag der Pflegekräfte besser werden, was wünschen Sie sich?

Es bräuchte in vielen Stationen mehr Pflegekräfte. Die Bezahlung müsste besser sein, auch wenn sie in manchen Häusern gar nicht so schlecht ist. Die Schichten müssten individueller an die jeweilige Familiensituation der Pflegekräfte angepasst werden, viele haben kleine Kinder zu Hause. Außerdem muss das Image der Pflegekräfte aufgebessert werden. Sie müssen mehr Wertschätzung erfahren, sowohl von den Ärztinnen und  Ärzten als auch von den Verantwortlichen in der Verwaltung der Kliniken. Dann könnten sie auch selbstbewusster auftreten.

Ihre Eltern arbeiten beide als Krankenpfleger. Welches Bild haben sie Ihnen von ihrem Beruf vermittelt?

Mein Vater ist mittlerweile Lehrer für Pflegeberufe, meine Mutter nach wie vor Pflegerin. Meine Eltern haben mir immer vermittelt, dass sie ihren Job gern und mit Herzblut machen. Ich fand es als Kind total spannend, was sie von ihren Patienten erzählten, wollte alles ganz genau wissen. Während meiner Ausbildung habe ich meinen Eltern viel von meinen Erfahrungen erzählt, wir konnten gemeinsam fachsimpeln.

Ihr Beruf als Pflegerin hat Sie auch literarisch inspiriert. In Ihrem Buch zitieren Sie eine 92jährige Patientin, die zu Ihnen sagt: »Es ist Wochenende, Liebes. Warum gehen Sie nicht tanzen?« Sie beschreiben das als einen poetischen Moment. Haben Sie mit Ihren Patienten häufiger solche Momente erlebt?

Ja. Das liegt auch daran, dass ich eine besondere Wahrnehmung für Sprache habe, von Worten fasziniert bin. Besondere Sätze schreibe ich immer in mein Tagebuch, dann kann ich später darauf zugreifen.

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Wenn man sich Videos von Ihren öffentlichen Auftritten anschaut, hat man das Gefühl, Sie seien die geborene Entertainerin. Dabei haben Sie sich mal als introvertiert bezeichnet. Sind Sie über Ihren Schatten gesprungen?

Ich denke, man kann auch als introvertierte Person gut auf Bühnen stehen, ohne die typische Rampensau zu sein. Ich finde diese Auftritte sehr motivierend, auch wenn sie mich Überwindung kosten, gerade vor laufender Kamera. Aber es sind ja meine eigenen Texte, die mir am Herzen liegen, und wenn ich die vortragen darf, macht mir das Riesenspaß.

»Ungepflegt« war 2022 ein riesiger Erfolg, das Video wurde millionenfach geklickt. Fühlten Sie sich überrumpelt?

Schon, ich musste erst mal meine neue Rolle finden. Plötzlich war ich in die Rolle einer Pflege-Aktivistin gerutscht, die ich gar nicht sein wollte, wurde in Talkshows und Podiumsdiskussionen gesetzt. Natürlich bin ich sehr froh, wenn ich Pflegekräfte motivieren kann, laut zu werden, aber ich sehe mich letztlich eher als Künstlerin.

Wie schaffen Sie es, das Schreiben, die Auftritte und das Medizinstudium zu verbinden?

Natürlich ist es ein Balanceakt, das alles unter einen Hut zu bringen. Aber ich finde es schön, so unterschiedliche Bereiche in meinem Leben zu haben. Das Studium macht mir großen Spaß, und auch das Schreiben möchte ich nicht mehr missen. Ich kann dabei meine Gedanken ordnen und mich selbst besser verstehen. Meine Kunst ist für mich Psychohygiene.

Quelle Poetry Slam TV/YouTube