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Alzheimer mit 62

»Ist sonst noch was?«

Christian Sonderegger hat Alzheimer.

»Den grausigen Abgrund kann ich nur mit Schreiben ertragen«, sagt Christian Sonderegger. Bild Martin Mühlegg

Alzheimer traf den Lehrer Christian Sonderegger (64) wie ein Blitz während des Unterrichts. Nach anfänglicher Panik versöhnt er sich langsam mit seinem Schicksal.

Ich stehe im Schulzimmer, gut vorbereitet, schreibe das Stichwort »Materialismus« an die Tafel und möchte beginnen – und weiß nicht, was dieses Wort bedeutet, warum ich hier stehe, was ich hier verloren habe – ich weiß, dass ich gleich sterben werde.

Gefühlt eine Stunde, real ein paar Sekunden später schleiche ich an mein Pult, um meine Vorbereitung zu lesen: Sie ist chinesisch geschrieben, ich kann die Zeichen nicht lesen und sterbe zum zweiten Mal. Eine Schülerin nimmt die vermeintliche Provokation an und äußert eine Meinung zum Materialismus, und dabei kommt mein Bewusstsein zurück. Andere beteiligen sich, und ich lebe wieder – zitternd, aber vermutlich unauffällig.

Das geschieht einige Male, es folgt ein vorgesehener Arzttermin. Ich fahre wie immer mit dem Fahrrad und gerate in Panik: Überall Autos, ich weiß nicht, wohin ich schauen muss und wer wo warum Vortritt hat – Panik! Dann finde ich die Praxis nicht, irgendwann dann zufällig doch. Es ist eine normale Konsultation, und am Schluss fragt die Ärztin: »Ist sonst noch was?« Ich erzähle, und sofort meldet sie mich in der Memory-Clinic an. Dazwischen unterrichte ich normal, aber ein paar Mal sterbe ich wieder. Inzwischen schon fast gefasst, aber immer nur so kurz, dass die Schülerinnen nichts merken.

Eine Untersuchung nach der andern, verschiedene Ärztinnen und Maschinen, Tests und Befragungen. Es folgt die Diagnose »Alzheimer« und 100 Prozent Krankschreibung. Schock und Erleichterung gleichzeitig: Jetzt weiß ich, was mit mir los ist.

Die Schulleitung reagiert verständnisvoll und mitfühlend, der Arbeitgeber vermittelt und bezahlt eine Case-Managerin. Kolleginnen und Kollegen übernehmen meine Klassen. Das Schultheater, das ich leite, kann noch stattfinden dank meiner Assistentin.

Ich verabschiede mich unter Tränen.

Es folgt eine Odyssee durch die Behörden, Ämter und Anträge und Formulare und Besprechungen. Die Case-Managerin führt mich freundlich. Ich unterschreibe vieles, suche Unterlagen, schicke sie an die Ämter, Steuern, AHV, Renten, suche Daten aus meinem ganzen Leben zusammen. Ich quetsche alte Tagebücher und Kontoauszüge aus.

Bei der Ärztin der Pensionskasse erfahre ich, dass ich nicht Alzheimer habe, sondern nur eine Depression. Das weiß sie, ohne mich auch nur befragt zu haben. Dr. Irene Bopp von der Memory Clinic setzt sich für mich ein. Sie erklärt der Ärztin, was eine Alzheimer-Diagnose ist. Ich muss aber doch nach Zug zum Psychiater. Der ist nett und sieht auch, dass ich keine Depression habe – endlich erfolgt das Eingeständnis der Pensionskasse.

Am Schluss bin ich fast froh, dass ich Alzheimer habe.

Den grausigen Abgrund kann ich nur mit Schreiben ertragen. Die engsten Freunde fragen, und ich versuche zu erklären, finde langsam Grund. Ich begreife, dass meine ganze Geografie gelöscht ist. Ich kann keine Karten lesen, die Orientierung ist weg. Ich lerne, mit dem Handy zu gehen und die Menschen zu fragen. Ich staune über ihre Hilfsbereitschaft und merke, dass ich noch lebe.

Inzwischen bin ich gereift. Ich genieße die Arbeitslosigkeit, die Freizeit, habe Rücksichtslosigkeit gelernt, lebe wie Brechts »unwürdige Greisin«. Ich fühle mich recht frei, kriege eine kleine Unterstützung der Krankenkasse und der Pensionskasse. Ich genieße den Umgang mit den wenigen tapferen Freundinnen und Freunden, die noch geblieben sind. Ich lese, spiele Klavier und kann dank den Karten auf dem Handy viel wandern.

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Diagnose

Wer über mehrere Wochen verdächtige Symptome hat, sollte zum Arzt gehen. Die genaue Untersuchung sollten Spezialisten machen, denn Schnelltests beim Hausarzt haben eine … weiterlesen

Meine Freundin Mirjam kümmert sich um mich. Sie findet heraus, dass Singen und Tanzen den Fortschritt etwas bremsen könnten. Also singe ich wieder im Chor, und sie nimmt mich mit zum Tanzen: israelische Volkstänze, nicht einfach, aber schön.

»So lebte er hin«, endet Büchners «Lenz», dem ich mich schon in der Jugend auf unheimliche Art vertraut fühlte. Als hätte ich schon damals geahnt, dass ich auch so enden würde. Auch das tröstet mich ein wenig, »es war mir fast, als könnte ich etwas stolz auf mein Gespür sein.« Frei nach Kleists: »Es war ihm fast, als müsst’ er sich freuen«, ebenfalls ein Zitat, das sich mir schon bei der ersten Lektüre tief eingebrannt hatte. Fluch oder Segen der Literatur?

»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«,

wusste Hölderlin schon (in »Patmos«), und tatsächlich: Mit schwindendem Verstand wuchs der Instinkt: Ich spüre und finde, was mir gut bekommt. Zum Beispiel echte Musik, Natur, wohlwollende Menschen, rettende Trottoirs, Wälder und Vögel. Ich fliehe vor dem, das mir schadet: Diskussionen, Rechthabereien, Profilierung und Lautstärke. Ich fliehe vor Menschen, die mir Vorwürfe machen: »Wieso bist du nicht gekommen, wir hatten doch abgemacht? Ich hab‘s dir doch schon erzählt, du weißt das schon alles! Das hatten wir doch so besprochen!«

Langsam, ganz langsam, schmilzt auch meine Panik vor dem baldigen Ende im Heim.

Das braucht sehr viel Arbeit, unterstützt von Bettina, die offen und erfahrungsreich mit mir darüber spricht. Ich beginne zu glauben, was ich gelesen habe: Dass nämlich Zootiere ganz zufrieden sind, weil sie nicht mehr dauernd Fressen und Partner suchen und Rivalen verjagen müssen.

So ist das, glaube ich, im Moment. Mein jetziges Vorbild ist der Zwölf-Elf von Christian Morgenstern:

Der Rabe Ralf ruft schaurig: »Kra!
Das End’ ist da! Das End’ ist da!«
Der Zwölf-Elf senkt die linke Hand:
Und wieder schläft das ganze Land.