Frau D. schlägt die erste Seite eines Fotoalbums auf. Sie tippt mit dem Zeigfinger auf einen Buben, der zwischen Erwachsenen steht. «Ha, der Hösi!», sagt sie und lacht. «Hier haben sie gewohnt, in diesem Haus im Thurgau.» Auch auf der nächsten Seite sind viele Menschen zu sehen. Sie pflanzen Stangenbohnen, reisen mit dem Schiff, schieben Kinderwägen oder posieren einfach so vor der Kamera.
Die quadratischen Abzüge in Schwarz-Weiss sind klein, die Köpfe der Menschen haben die Dimension eines Zündholzkopfes. Frau D. erkennt trotzdem fast alle – kann aber viele Namen nicht nennen. Manchmal legt sie ihre Hand auf den Mund, als ob ein Anstauen der gesprochen Worte die Gedanken forcieren könnte.
Der Name der Klosterfrau, die in einer Mission in Asien arbeitete, will ihr nicht einfallen. «Ich sehe es, kann es aber nicht sagen. Es ist manchmal einfach weg. Es kommt dann wieder, wenn ich mich anstrenge.»
Doch die Worte, die dann kommen, sind manchmal die falschen. Der Bub, den sie auf dem Foto erkennt haben will, ist nicht Hösi, ihr ältester Sohn. Es ist ihr vor zwölf Jahren verstorbener Ehemann. Menschen mit Demenz bringen nicht nur Namen durcheinander, sondern auch die Generationen. Manche halten ihre Kinder für Ehepartner – oder fragen immer wieder nach der längst verstorbenen Mutter, die gleich zu Besuch kommen sollte.
Frau D. ist 85, sie wirkt zufrieden und gesund. Wenn Besuch kommt, legt sie das Kreuzworträtsel zur Seite und sagt, sie werde später weitermachen. Zwei Worte in der Senkrechten hat sie bereits aufgeschrieben: «Ironie» als Synonym für «feinen Spott» und «Ei» als «Produkt einer Henne».
«Sie bekommt immer wieder Komplimente, weil es ihr in diesem Alter noch so gut geht», sagt ihr 48-jähriger Sohn. Manchmal sei das problematisch.
«Meine Mutter hat eine Methode entwickelt, wie sie ihre Defizite verbergen kann. Manche Leute verstehen deshalb nicht, dass sie den Haushalt nicht mehr führen kann.»
Vor fünf Jahren vergass Frau D. ihr Bancomat-Passwort. «Das komme halt vor im Alter, dachten wir», sagt ihr Sohn. «Ich übernahm die Bankgeschäfte, hob jeweils ein paar hundert Franken ab und drückte sie ihr in die Hand.» Das Geld sei aber nach wenigen Tagen weg gewesen. Er vermute, dass sie es grosszügig verteilt habe.
«Ihren Enkeln wollte sie bei jedem Besuch Geld geben. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihnen kurz vorher etwas gegeben hatte. Also gab ich ihr nur noch kleinere Beträge und in kleinen Noten.»