«Tsch – tsch – tsch»: Das Geräusch eines Besens auf Kies beschallte über ein Jahrzehnt lang ebenso den Garten der Sonnweid wie das Zwitschern der Vögel. «Tsch – tsch – tsch»: Mehrere Stunden täglich war es zu hören, wenn Herr Haueter sein Werk vollbrachte.

Mal wischte er geschwungene Rippen in den Kies, mal waren es gerade Linien oder Gräben, die den Rändern der Kieswege folgten. «Es ist keine Kunst», sagte der Mann, der mit verformtem Besen, roten Marlboros und rustikalen Witzen zu einem Wahrzeichen der Sonnweid geworden ist. «Ich muss mich nicht als Künstler verkaufen, meine Pension ist mehr als ausreichend.»

Herr Haueter wischt im Video

https://vimeo.com/139684082
Quelle vimeo

Die schönen Formen und filigran verlaufenden Linien auf den verschlungenen Spazierwegen der Sonnweid entstanden demnach ohne gestalterische Absicht – was bekanntlich eine gute Voraussetzung ist für ein gelungenes Werk.

Herr Haueter wischte am Rand eines Weges etwas Kies zur Seite und erklärte: «Da siehst du das Wasser, das herunterläuft. Wenn die Sonne kommt, kommt auch das Vieh: Käfer und Schnecken hat es dann drin, und die machen mit dem Wasser den Weg kaputt.» Er erschaffe keine Bilder, sondern leiste Dienst am Kunden. «Es kommen ja nicht nur Gesunde. Schau, die Alte da drüben – auch sie muss gefahrlos herumlaufen können.»

Rippen im Kiesweg.Bild Véronique Hoegger

Herr Haueters Schaffen hatte etwas Meditatives: Es gleicht der Beschäftigung der buddhistischen Mönche, die mit ihren vergänglichen Mandalas aus Sand die leidvolle Ich-Anhaftung vermindern und gleichzeitig etwas Schönes für den Moment schaffen wollen.

Im Unterschied zu diesen Mönchen war es nicht der Erschaffer selbst, der sein Werk «zerstörte». Es waren die Gärtner der Sonnweid, die die Wege wieder ausebneten und somit Herrn Haueter wieder eine «weisse Leinwand» gaben.

Herr Haueter hatte zwar den Schalk und die List des Sisiphos, aber die mythologisch verbürgte Sinnlosigkeit des Schaffens des Korinthers ging dem Bewohner der Sonnweid ab. Herr Haueter wollte etwas verändern, er wolltel die Wege sicher und haltbar machen.

Täglich vollbrachte Herr Haueter sein Werk.Bild Véronique Hoegger

Schon in seiner früheren Arbeit als leitender Angestellter eines Logistik-Unternehmens beschäftigte sich Herr Haueter mit höchst flüchtigen Angelegenheiten. Fahrzeuge kommen und gehen, werden beladen und entladen.

Täglich, stündlich, minütlich, augenblicklich veränderte sich alles. Herr Haueter gehört also nicht zu jenen Menschen, die nach vollbrachter Arbeit etwas Handfestes, scheinbar Unvergängliches haben wollen.

Nach vielen Jahren leben und wischen in der Sonnweid verlangsamte sich Herr Haueters Arbeitstempo. Das Rauchen und die Demenz zollen ihren Tribut in der Form eines geschwächten Kreislaufs. Herr Hauter atmete schwer, wenn er den Besen führte und sich immer wieder mit einer Hand auf dem Rollator abstützt. Mittlerweile wischt er nicht mehr.

Auch bei Schnee gab es Arbeit im Garten.Bild Véronique Hoegger

Sein Werk wurde zum Ende hin archaischer. Es gab weniger feine Rillen, dafür umso höhere Kieswälle zu sehen. Auch die grösseren Steine aus dem Fundament der Wege zierten sein Werk und sind Zeugen einer zunehmenden Unzufriedenheit. Je näher der Tod kommt, desto mehr wollte er die Spazierwege im Garten der Sonnweid für die Zukunft sichern.

«Warum machen die hier gopferteckel keine Abflüsse hin», schimpfte er, holte eine Marlboro aus der Brusttasche seines Hemdes und fragte nach Feuer. «Alles geht kaputt, wenn der Regen kommt.» Er fuchtelte mit den Armen, zeigte, was alles im Argen lag in diesem Garten. Dann packte er seinen Besen, der mittlerweile aussah wie eine Vogelscheuche im Orkan, und wischte weiter. «Tsch – tsch – tsch.»

Herr Haueter mit seinem Besen.
Herr Haueter mit seinem Besen. Bild Véronique Hoegger