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Leben im Alter

Was schulden wir unseren Angehörigen?

Charlotte (links) und Erika (rechts) haben mit ihrem Intergenerationen-Projekt einen Nerv getroffen. privat

Wie wollen wir alt werden? Was tun, wenn ältere Angehörige im Alltag Hilfe brauchen? Die Studentinnen Charlotte und Erika haben in Koproduktion mit dem SRF drei Familien filmisch begleitet. Entstanden sind einfühlsame Porträts mit Tiefgang.

Wir treffen uns in einem Zürcher Kulturcafé mit kleinem Buchladen. Auf der Suche nach einem Sitzplatz im ruhigeren Teil des Cafés stosse ich auf das Buch von Barbara Bleisch: «Warum wir unseren Eltern nichts schulden».

Das passt. Denn heute geht es genau darum. «Familienbande» heisst das Abschlussprojekt von Charlotte und Erika, die an der Zürcher Hochschule der Künste studieren. Sie stellen die Frage: «Was schulden wir unseren Angehörigen?»

Kernstück der Diplomarbeit sind drei kurze Dokumentarfilme, die in Kooperation mit dem Schweizer Fernsehen SRF entstanden sind. Darin porträtieren die Studentinnen drei Familien:

  • Annemarie (77) lebt allein. Sie hat keine Kinder, engagiert sich aber im Generationentandem, das Jung und Alt zusammenbringt.
  • Gerhard (91) wohnt noch zuhause, obwohl er nicht mehr so mobil ist. Möglich ist das durch die Unterstützung seiner Tochter und deren Familie sowie einen grossen Freundeskreis.
  • Ruth (90) hat Demenz und wird in einem Mehrgenerationenhaus von 13 Angehörigen rund um die Uhr betreut.

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Doch Charlotte und Erika wollen nicht nur dokumentieren, sondern vor allem zum Austausch anregen. Leben im Alter – das geht jeden etwas an. Wie stelle ich mir mein eigenes Altwerden vor? Was ist die Rolle der Familie, wenn ältere Angehörige auf Unterstützung angewiesen sind?

«Wir wollen nicht schwarz-weiss malen», sagt Charlotte. «Es gibt verschiedene Lösungen, jede Meinung ist richtig und wichtig. Deshalb soll ein Diskurs entstehen, auch zwischen den Generationen.»

Was wünschen wir uns? Was sind wir fähig zu tun? Und wie erreichen wir, dass es für alle gut ist? Über diese Fragen diskutieren Menschen aus allen Altersschichten auf dem Instagram-Kanal familienbande_webdoku und in einer WhatsApp-Gruppe.

Heute ist Vernissage der Diplomarbeit. Trotz engem Zeitplan haben sich Charlotte und Erika Zeit genommen, um mit alzheimer.ch über Lebensentwürfe im Alter und die Rolle der Familie zu sprechen.

alzheimer.ch: Warum dieses Thema?

Charlotte: Erika und ich haben uns privat über unsere Grosseltern unterhalten. Denn in beiden Familien stehen jetzt Entscheidungen an, wie es weitergehen soll.

Charlotte (links) und Erika (rechts) filmen zu einem Thema, das jeden betrifft.privat

Meine Grosseltern leben in Norddeutschland, tausend Kilometer von mir entfernt. Sie sind über 80 und jedes Mal, wenn ich sie besuche, merke ich, wie weniger geht. Meine Oma erinnert sich noch gut an ihre Mutter, die sie bis zum Schluss pflegte: Kaum war sie pensioniert, war sie pflegende Angehörige. Selbst will sie nicht so altern. Wie, das bleibt die Frage.

Erika: Und mein Grossvater hatte vor vier Jahren einen Schlaganfall. Mithilfe seiner Partnerin erholte er sich wieder einigermassen. Dann starb sie und seit er allein lebt, geht es bergab. Bei meinem letzten Besuch hatte ich den Eindruck, dass es Richtung Demenz geht. Jetzt müssen wir entscheiden, wie es mit ihm weitergehen soll.

Charlotte: Wir haben auch mit anderen darüber gesprochen und gemerkt, dass jeder etwas dazu erzählen kann.

Jeder hat Eltern und Grosseltern. Das Thema «Leben im Alter» ist gesellschaftlich hochrelevant.

So ist aus einem Gespräch und der beiläufigen Bemerkung, dass man darüber ja was machen könnte, unsere Diplomarbeit entstanden.

Für eure Arbeit habt ihr drei Familien dokumentarisch begleitet. Wie habt ihr diese drei Protagonist:innen gefunden?

Charlotte: Das war ultraschwierig. Erst haben wir Flyer verteilt. Auf die hat sich niemand gemeldet. Dann haben wir über neunzig Institutionen angeschrieben und über interne Kontakte hat es dann geklappt – zum Beispiel mit Annemarie, die beim Generationentandem arbeitet und für unser Projekt über das alleine Altwerden berichtet. Die Pandemiesituation war ein grosses Hindernis, denn immerhin suchten wir Menschen aus einer vulnerablen Gruppe.

Annemarie meldete sich, als sie über das Generationentandem vom Projekt «Familienbande» hörte.privat

Erika: Die Familie von Ruth kenne ich persönlich. Ich habe immer wieder von unserem Projekt erzählt und dass wir dringend noch eine Familie suchen …

Ruth hat bereits fortgeschrittenere Demenz. Hat sie verstanden, was da passiert?

Erika: Die Familie hat es ihr immer wieder erklärt. Ruth ist auch jemand, der gern im Mittelpunkt steht. Dass es einen Film über sie gibt, dürfte ihr gefallen.

Charlotte: Beim Dreh hat sie öfter gefragt, wer wir sind und was wir machen. Wir haben es ihr mehrmals erklärt und sie war mehrmals damit einverstanden.

Aber es brauchte von unserer Seite her Fingerspitzengefühl. Anders als Gerhard und Annemarie hat Ruth zwischendurch vergessen, dass sie gefilmt wird. Da muss man sensibel sein: Wann filmen wir und wann nicht? Wann sind wir Beobachter und wann werden wir zu Stalkern?

Gerade bei Ruths Folge sind euch sehr authentische Bilder gelungen. Nichts ist gestellt. Wie lief das denn beim Dreh der drei Folgen ab?

Charlotte: Eine von uns hat gefilmt, die andere war für die Regie und die Betreuung der Familie zuständig. Unterstützt wurden wir dabei von unserem grandiosen Tontechniker.

Alle drei Folgen haben wir parallel produziert. Bei Gerhard und Annemarie hatten wir ein Skript. Dort haben wir die Szenen definiert, die wir zeigen wollten: Am Esstisch erfährt man zum Beispiel viel über die Familiendynamik, in Alltagsszenen sieht man, wie selbständig die porträtierte Person noch lebt und wo sie Hilfe braucht.

Trotzdem war der Dreh ein flexibler Prozess, denn wir hatten pro Folge nur etwa vier bis sechs Tage Drehzeit und mussten laufend schauen, welche Themen aufkommen. Zum Beispiel während des gemeinsamen Mittagessens mit der Familie – ohne Kamera. So erfuhren wir erst im Laufe der Dreharbeiten von Gerhards Griechischgruppe.

Erika: Ruth war ein Spezialfall. Weder wir noch die Familie wussten, was passieren würde. Also haben wir uns angepasst und sind den Familienmitgliedern spontan gefolgt – ins Wohnzimmer, in den Garten, auf den Spaziergang durchs Quartier. Es war immer klar, dass wir uns sofort zurückziehen, wenn es nicht mehr passen sollte.

Ruth wird von ihren Angehörigen in einem Mehrgenerationenhaus betreut.privat

Dazu kam es allerdings nie. Bei allen drei Folgen merkt man, wie sehr sich die Familien für euch geöffnet haben.

Erika: Ein unglaubliches Glück. Sie haben sich wohlgefühlt und viel erzählt, was nicht selbstverständlich ist. Ich empfand es als Geschenk.

Wie haben sie reagiert, als sie den Film dann gesehen haben?

Erika: Mir war beim Schneiden teilweise schon etwas bang. Die Interviewten wussten ja nicht, was andere Familienmitglieder in den Einzelgesprächen gesagt haben. Aber alle haben positiv reagiert.

Ihr wart ganz dicht am Leben dieser Familien dran. Was hat das mit euch gemacht?

Charlotte: Es gab Momente, wo Erika und ich mit Tränen in den Augen dastanden. Etwa als Gerhard gesungen hat oder uns aus seinem Leben erzählte. Wir waren halt doch emotional dabei und nicht nur hinter der Kamera.

Erika: Für mich war es auch bereichernd zu sehen, wie unterschiedlich Familien die Betreuung und Pflege von Angehörigen regeln. Das hat viel mit der Beziehung innerhalb der Familie zu tun. Es gibt kein Richtig oder Falsch.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Charlotte: Man hat uns in den letzten Monaten aber auch angemerkt, wie stark uns das Thema beschäftigt. Die Folgen behandelten verschiedene Ängste, die auch uns getriggert haben: Gerhard hatte Angst davor, seine Partnerin zu verlieren, Annemarie fürchtet das alleine Altwerden und die Folge über Ruth thematisiert das Vergessen.

Bis zu den Gesprächen mit den Familien war uns nicht klar, wie viel Fragen zum Leben im Alter mit dem Tod zu tun haben – ein Thema, vor dem ich mich sehr fürchte.

Was nehmt ihr für euch persönlich mit?

Charlotte: Gerhard hat diese positive Art, einfach weiterzumachen. Durch seinen Charme hat er ein grosses Beziehungsnetzwerk aufgebaut, das ihn trägt. Sein Nachbar kommt auf einen Spaziergang vorbei, sein Friseur holt ihn von zu Hause ab, frisiert ihn in seinem Salon und bringt ihn wieder heim.

Annemarie befasst sich aktiv und ganz gezielt mit der Frage, wie sie alt werden möchte. Sie hat keine Familie, aber sie engagiert sich und hat sich ihr Angehörigennetzwerk geschaffen. Ohne Partner und Blutsverwandte zu altern kann also auch schön sein.

Und Ruth … Ja, Demenz ist ein schweres Thema. Aber auch da nehme ich mit, was ihre Tochter in der Schlussszene sagt: Das Leben ist trotzdem lebenswert, man kann sich auch an kleinen Dingen erfreuen und noch Sachen dazulernen, auch wenn man vergisst.

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Erika: Ich nehme mit, dass man sich effektiv mit Altersfragen auseinandersetzen muss. Auch wenn es unangenehm ist. Bei meinen Grosseltern ist es dafür zu spät, aber mit meinen Eltern will ich das besprechen:

Wie wollt ihr später leben? Macht bitte einen Vorsorgeauftrag, in dem ihr eure Wünsche festhaltet!

Charlotte: Das Paradoxe ist: Man hat Angst davor, im Alter nicht mehr selbstbestimmt zu leben. Und deshalb kümmert man sich nicht darum, weil man gar nicht dran denken will. Aber genau das führt zur Fremdbestimmung.

Ich selbst weiss allerdings auch nicht, wie ich im Alter dazu stehen werde. Vielleicht will ich mich gar nicht kümmern, weil mir das Thema Angst macht. Ein Mitglied unserer WhatsApp-Gruppe fragte einmal: Wann ist man denn verpflichtet, sich zu kümmern und Verantwortung abzugeben?

→ Hier gibt’s Infos zum Thema Vorsorgeauftrag

Stichwort Verantwortung: Euer Projekt trägt den Untertitel «Was wir unseren Angehörigen schulden». Schulden wir ihnen etwas?

Charlotte: Aus meiner Sicht nicht. Man hat eine Verantwortung, ja, aber man muss nicht selbst pflegen oder betreuen. Insbesondere wenn das Verhältnis zu dem Elternteil schwierig ist. Aber wenn die Beziehung gut ist, dann gibt man meistens gerne etwas zurück. Wie genau, das ist eine persönliche Entscheidung und hat mit der Geschichte und Konstellation der Familie zu tun.

Engagement im Dreierpack: Charlotte und Erika mit Tontechniker Simon.privat

Erika: Rational stimme ich dir zu. Emotional bin ich zwiegespalten. Meine Mutter ist Schweizerin, mein Vater kommt aus Chile. Dort ist es verpönt, ältere Familienmitglieder in ein Heim zu geben. Sie werden in der Familie gepflegt.

Wie wollt ihr denn mal alt werden?

Erika: Das wurden wir auch im Chat gefragt. Ich habe immer noch keine Antwort darauf.

Charlotte: Ich kann nur die Klischeeantwort geben: so lange wie möglich fit und gesund. Aber was passiert, wenn ich das nicht mehr bin? Was wird in 50 Jahren überhaupt möglich sein?

Hätte ich Kinder, würde ich nicht von ihnen erwarten, dass ich von ihnen umsorgt werde. Aber ich würde mir vermutlich schon wünschen, dass sie ein Teil meines Lebens sind. Das Gefühl zu haben, noch gebraucht zu werden, etwas beitragen zu können, das wäre schön.

Wie geht es jetzt weiter?

Charlotte: Zuerst brauchen wir Ferien! Aber das Thema hat Potenzial und ist wichtig. Deshalb wollen es weiterverfolgen.

Erika: Am liebsten würden wir weitere Beiträge drehen. Es gibt noch so viele Geschichten, die man erzählen könnte! Zum Beispiel über Menschen, die im Heim leben, oder über Familien mit Migrationshintergrund.

Charlotte: Aktuell suchen wir nach Finanzierungsmöglichkeiten. Wir sind mit Institutionen in Kontakt und schauen, was sich daraus ergibt. Im September leiten wir ausserdem einen Workshop am Generationen-Festival in Thun.

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