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«Sinnstiftung ist vielen Rentnern sehr wichtig»

Der Erwartungsdruck unserer Leistungsgesellschaft macht vor dem Alter nicht halt. Philippe Leone/unsplash

Das Leben als Rentner kann eine große Herausforderung sein. Aber neben den Fallstricken und Problemen bringt diese neue Phase eine Menge Gewinn. Altersforscher Klaus Gürtler gibt im Interview Tipps.

alzheimer.ch: Viele Babyboomer gehen demnächst in Rente. Was sind typische Probleme in dieser neuen Lebensphase?

Klaus Gürtler: Viele Menschen leiden unter dem sogenannten «Empty-Desk-Syndrom»,  der Schreibtisch ist leer, sie wissen nicht, wie sie ihre freie Zeit füllen können. Gerade Männern macht der Bedeutungsverlust oft zu schaffen. Mir selbst ist das ähnlich gegangen: Ich hatte im Vorfeld der Rente eine Krise, fragte mich: Wer bin ich, wenn mich keiner mehr mit «Herr Doktor» anredet? Das fühlte sich für meine Eitelkeit nicht gut an.

Klaus GürtlerPD

Meinen Sie, Frauen leiden weniger, wenn sie in Rente gehen?

Ich denke schon. Im Moment arbeiten noch viele Frauen in Teilzeit, sie sind seltener in Führungspositionen als Männer. Für viele Frauen ist der Job nicht der einzige Lebensmittelpunkt, und deshalb ist die Rente kein so gravierender Einschnitt wie für die Männer.

Sobald die Frauen beruflich mit den Männern gleichgezogen haben, die Arbeit mehr Raum in ihrem Leben bekommt, werden auch sie als Rentnerinnen mehr unter dem «empty desk» leiden. Ich denke, das wird in zehn, spätestens 20 Jahren der Fall sein.

Viele Babyboomer möchten nach Beginn der Rente weiterarbeiten. Was treibt diese Menschen an?

Ich werfe mal einen Blick auf die Generation vor den Babyboomern: Viele Menschen waren froh, mit der Rente endlich langgehegte Träume zu verwirklichen. Sie hatten die Zeit und die finanziellen Mittel zu reisen, ihre Wohnung zu verschönern.

Zur Person

Dr. Klaus Gürtler, 70, wurde in Regensburg geboren, wo er auch heute noch lebt. Bis vor vier Jahren war er als Psychotherapeut am Zentrum für Altersmedizin im Regensburger Bezirksklinikum tätig. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Demenz und Depressionen im Alter. Gürtler ist Vorsitzender der «Stiftung Alzheimer Demenz: Pflege und Forschung» in Regensburg.

Die Babyboomer haben das oft schon während ihres Arbeitslebens gemacht, sie haben in der Rente nicht diesen Antrieb, Verschobenes nachzuholen. Deshalb arbeiten sie weiter, gehen in ein Ehrenamt oder engagieren sich im Verein.

Sinnstiftung ist für viele sehr wichtig, sie möchten etwas tun, das Bedeutung hat. Hinzu kommt, dass die Rentner von heute normalerweise gesünder sind als die Generationen zuvor, sie fühlen sich arbeitsfähiger. Der Altersforscher Paul Baltes nannte die Jahre von 60 bis 75 «das dritte Lebensalter» oder auch die «belle époque» – also eine Zeit, in der noch ganz viel möglich ist.

Was sind typische Fallstricke, wenn Menschen den Übergang vom Arbeitsleben in die Rente bewältigen müssen?

Sicher ist es nicht gut, die Arbeitsbelastung von 100 Prozent plötzlich auf null herunterzufahren, das ist auch für den Körper nicht gesund. Man sollte den Übergang abfedern, etwa durch ein Ehrenamt oder indem man zumindest ein bisschen arbeitet. Ich selbst bin in Altersteilzeit gegangen, dadurch war der Übergang fließend.

Ein andere Gefahr sehe ich darin, dass sich Rentner oft zu viel vornehmen: Sie wollen eine große Reise machen, endlich alle Bücher lesen, die ungelesen im Regal stehen, sich in Hobbys stürzen, die sie bislang vernachlässigt haben. Sie setzen sich unter Druck, das dann alles unbedingt zu schaffen.

Wie kommt es dazu?

Ich denke, das ist eine allgemeine Tendenz in unserer Macher-Gesellschaft. Wir haben den Anspruch an uns, möglichst «taff» zu sein, so wir es im Berufsleben waren. Auch die Umgebung geht davon aus, dass wir aktive, agile Rentner sind, viel um die Ohren haben. Der Erwartungsdruck unserer Leistungsgesellschaft macht vor dem Alter nicht halt.

Zehn Tipps von Klaus Gürtler für die Rente

  • Aktivitäten verfolgen, die einem Spaß machen, etwa im Chor singen oder mit anderen joggen gehen. Die Aktivität muss zum Menschen passen, man sollte sich nicht zu etwas zwingen, wozu man keine Lust hat.
  • Pläne machen für die Zukunft, das kann eine Reise sein oder der Besuch einer Ausstellung in einer anderen Stadt.
  • Offen sein, Neues zu lernen, etwa ein Instrument oder eine Fremdsprache.
  • Nicht in Aktionismus verfallen, von morgens bis abends Termine machen. Inseln mit freier Zeit sorgen für mehr Entspannung und Genuss.
  • Humor kann helfen, um mit den Schwierigkeiten und Gebrechen, die das Alter mit sich bringt, besser fertig zu werden. Ein witziger Film oder ein lustiger Spruch bringen positive Schwingungen.
  • Im Gespräch bleiben mit den jüngeren Generationen. Es kann für beide Seiten bereichernd sein, wenn jeder etwas von seinen Erfahrungen weitergibt. Ein bisschen Selbstironie und Augenzwinkern können nicht schaden, damit die «Weisheiten» der Älteren nicht so herüberkommen, als wisse man alles besser.
  • Vergleiche mit anderen, die «mehr» können als man selbst, etwa auf hohe Berge klettern, vermeiden. Stattdessen sollte man sich lieber über die Dinge freuen, die man noch gut bewältigen kann.
  • Hilfsmittel (Rollator, Hörgerät etc.) benutzen, wenn es nötig wird, und nicht aus Eitelkeit darauf verzichten. Sich informieren, welche Möglichkeiten es trotz Hilfsmitteln gibt, etwa Kurse für Sitz-Tanz oder – auch das gibt es –  Rollator-Tanz.
  • Auf depressive Verstimmungen achten, damit diese sich nicht ausweiten, und ggf. auf psychologische Hilfsangebote zurückgreifen, zum Beispiel von gerontopsychiatrischen Diensten. Fragen wie «Warum ich und warum gerade jetzt?» sind nicht zielführend. Besser ist Akzeptanz und möglichst schnell Unterstützung suchen.
  • Gelegentlich an die Erfolge und positiven Ereignisse in der eigenen Biografie denken – durchaus auch mit Stolz. Diese Art der Rückbesinnung stärkt die Resilienz, also die Widerstandskraft gegenüber möglichen Schicksalsschlägen und Gebrechen.

Haben Sie selbst dieses Optimierungsdenken ausschalten können, seit Sie in Rente sein?

Nicht immer. Ich möchte mich möglichst nützlich machen, nicht das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Deswegen schreibe ich weiterhin Artikel für Fachzeitschriften, engagiere mich in der Stiftung Alzheimer Demenz. Es reicht mir nicht aus, meiner Frau und meiner Tochter gute Ratschläge zu geben. (lacht)

Sie sind seit fast 50 Jahren mit Ihrer Frau zusammen. Ist die Paarbeziehung ein Pulverfass, wenn Partner viele Jahre liiert sind und gemeinsam in Rente gehen?

Grundsätzlich besteht die Gefahr. Wichtig ist nach meiner Erfahrung, dass man sich gegenseitig Freiräume lässt, jeder eigene Hobbys und Freunde hat. Meine Frau und ich sind etwa zeitgleich in Rente gegangen, wir machen Sachen zusammen, aber auch getrennt.

Eifersüchteleien – du hast mehr Freunde als ich, machst die schöneren Ausflüge – sind total kontraproduktiv. Ich würde jedem empfehlen, rechtzeitig Freundeskreise aufzubauen, also, wie es so schön heißt, das Leben vom Ende her denken. Es müssen gar nicht unbedingt viele Freunde sein, aber eben sehr gute Freunde.

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Alter

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In unserer Gesellschaft ist das Alter immer noch verpönt. In der Werbung sind zwar mehr Ältere zu sehen als früher, aber die Jungen dominieren. Viele Ältere haben Angst, zum alten Eisen gezählt zu werden.

Das stimmt. Die meisten wollen möglichst jung und attraktiv aussehen, das Schreckgespenst ist die alte krumme Hexe, die am Stock geht. Warum kann man nicht zu seinen Altersflecken und Falten stehen und die ohne Scheu zeigen? Das ist doch kein Ausschlag, sondern gehört zum Älterwerden dazu.

Unsere Gesichter spiegeln das, was wir in unserem Leben erfahren haben. Da muss eine neue Ästhetik des Alters her, sage ich mal ganz pathetisch.

Die Älteren müssen selbstbewusster werden. Dass in den USA ein Mann mit 80 Präsident sein kann, finde ich ein gutes Zeichen. Es braucht positive Vorbilder. Für mich ist der Psychotherapeut und Schriftsteller Irvin D. Yalom immer ein Vorbild gewesen: Er ist 92 und schreibt bis ins hohe Alter Bücher und Artikel.

Wie weit können Glaube und Religion helfen, um mit dem Alter besser klar zu kommen?

Ich finde es gut, wenn wir im Alter eine gewisse spirituelle Ausrichtung haben, dazu muss man aber nicht einer Religion oder Glaubensgemeinschaft angehören. Es kann bereichernd sein, eine Meditationspraxis zu entwickeln oder mit anderen über die Welt zu philosophieren. Es gibt den Begriff der Gerotranszendenz, das heißt, dass man über sich selbst hinaus geht und schon ein bisschen von der Welt löst, die man ja irgendwann verlassen muss. Das finde ich sehr einleuchtend.

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Sie sprechen hier das höhere Alter an. Wie ist es denn um die Lebensqualität der Menschen ab 75 aufwärts bestellt, die meist nicht mehr so fit sind wie die Senioren in der frühen Rentenphase?

Wie die Menschen diese Phase erleben, ist sehr verschieden. Das hohe Alter kann sehr brutal sein, ich habe das als Psychotherapeut in der Klinik oft erlebt. Patienten werden inkontinent, manche beschmieren sich mit Kot. Andere sind dagegen körperlich und geistig noch sehr fit.

Ich zitiere noch einmal Paul Baltes, der gesagt hat, das Alter sei ambivalent: Weder sollte man es einseitig als Defizitmodell sehen noch mit einer naiven Machbarkeitsideologie verbinden. Für Baltes ist die angemessene Haltung «Hoffnung mit Trauerflor».

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Mit dem Alter steigt auch die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken. Wie weit können wir durch unsere Lebensführung das Risiko minimieren?

Es gibt einige Faktoren, auf die wir Einfluss haben, ich nenne das auch einen antidementiven Lebensstil. Dazu zählen Sport und Bewegung, die ebenfalls dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, eine gesunde, ausgewogene Ernährung, gute soziale Kontakte und eventuell eine musische Tätigkeit.

Tanzen scheint übrigens eine ideale Aktivität zu sein, die viele Bereiche abdeckt: Man bleibt in Bewegung, muss mitdenken, welche Schritte man macht, und profitiert vom sozialen Miteinander. Man sollte in all diesen Bereichen aber nicht erst im Alter von 65, 70 aktiv werden, sondern deutlich früher, spätestens in der Mitte des Lebens.

Wie weit haben Sie in Ihrer Familie Erfahrungen mit Demenz gemacht?

Mein Vater ist mit 91 gestorben, er war die letzten sechs Jahre seines Lebens demenzkrank. Nach dem Tod meiner Mutter saß er allein zu Hause, sinnierte vor sich hin. Er war ein geselliger Typ, ergriff aber von sich aus nicht die Initiative.

Die sozialen Kontakte hatte immer meine Mutter gepflegt. Nach ihrem Tod ist seine Demenz, die sich vorher schon angedeutet hatte, deutlich schlimmer geworden. Er kam in ein Heim und hat in den letzten drei Lebensjahren seine Angehörigen nicht mehr erkannt. Das war sehr bedrückend.

Angehörige fühlen sich oft schuldig, weil sie meinen, nicht genug für den erkrankten Vater, die Mutter oder den Partner zu tun. Viele leiden darunter, wenn sie den Umzug in ein Pflegeheim vorantreiben. Wie können sie mit ihrem Kummer und den Schuldgefühlen besser umgehen?

Ich würde auf jeden Fall eine Selbsthilfegruppe empfehlen, in der Angehörige offen über ihre Gefühle und Probleme sprechen können. Sie erkennen dort, dass es anderen genauso geht wie ihnen, fühlen sich dann nicht mehr so schlecht, ungenügend oder gar versagend.

In den Selbsthilfegruppen der Alzheimer Gesellschaften tauscht man sich auf Augenhöhe aus und lernt, dass es Grenzen der eigenen Belastbarkeit gibt. Das zu erkennen, kann eine große Erleichterung sein für die manchmal lange und schwere Pflege von Menschen mit Demenz.