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Demenz und Migration

«Sie sind gekommen und geblieben»

Sie sind längst Teil unserer Gesellschaft. Trotzdem fehlen Versorgungsstrukturen für demenzbetroffene Migrantinnen und Migranten. Unsplash

Was bedeutet es, wenn ein Mensch mit Migrationshintergrund an Demenz erkrankt? Aktuell geht die Versorgungslandschaft kaum auf dessen Bedürfnisse ein. Das muss sich dringend ändern, denn die Zahl der Betroffenen steigt.

«Der Plan war: Die Menschen kommen, machen ihren Job und dann gehen sie wieder. Aber sie sind gekommen und geblieben.»

Ich spreche mit Sümeyra Öztürk, Mitarbeiterin bei Demenz Support Stuttgart. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf Demenz und Migration.

Sümeyra Öztürks Aussage, in der Max Frischs berühmter Ausspruch anklingt, trifft den Nagel auf den Kopf. Millionen so genannter Gastarbeiter sind in den Sechziger- und Siebzigerjahren nach Deutschland gekommen. Viele mit dem Ziel, irgendwann in die Heimat zurückzukehren. Doch dann kam die Familie, nicht wenige sind geblieben und alt geworden.

«Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.»
– Max Frisch (1965)

Was bedeutet es, wenn ein Mensch mit Migrationshintergrund an Demenz erkrankt? Obwohl unsere Gesellschaft mit und durch Migration lebt, wurde diese Frage lange banalisiert. Inzwischen wird sie auch von der Nationalen Demenzstrategie aufgegriffen.

In Deutschland sind schätzungsweise 120’000 Menschen mit Migrationshintergrund von einer Demenz betroffen.

Diese Zahlen werden aufgrund der demografischen Situation massiv steigen. Es braucht dringend Versorgungsstrukturen, die ältere Menschen mit Migrationshintergrund in ihren Bedürfnissen wahrnehmen. Und eine Sensibilisierung der Institutionen und des Fachpersonals hinsichtlich kultursensibler Pflege.

Daran arbeitet Sümeyra Öztürk im Rahmen des Projekts «DeMigranz». Ziel ist ein bundesweites Netzwerk, das Migranten mit Demenz unterstützt. 2017 mit der Förderung der Robert Bosch Stiftung ins Leben gerufen, verfolgt «DeMigranz» eine Bottom-Up-Strategie: Migrantenvertreter werden von Anfang an mit einbezogen, Angebote gezielt an den Bedarfen ausgerichtet.

Mitte der Fünfzigerjahre begann die Bundesrepublik mit der Anwerbung so genannter Gastarbeiter. Dass sie bleiben, war nicht geplant.Demenz Support Stuttgart

Zwar hat die Pandemie das Unterfangen ausgebremst, doch jetzt geht es wieder voran. Mitte Januar 2021 fand das erste bundesweite Netzwerktreffen von «DeMigranz» und den Kooperationspartnern statt. Die Zahl der Partner, die regional Akteure ermitteln und koordinieren, wächst.

Besonders wichtig für den Netzwerkaufbau ist die Zusammenarbeit mit kommunalen Migrantenvertretungen. Sie schaffen den Zugang zu jenen, um die es geht. Auch dort ist Demenz oft ein Tabu.

Die Kultur beeinflusst, wie mit dem «Phänomen» umgegangen wird und wer wie pflegt. Die Einwanderungserfahrung formt diesen Umgang zusätzlich.

«In Hamburg liegt ein Schwerpunkt lokaler Treffen auf der Sensibilisierung», erklärt Sümeyra Öztürk.

Denn Pflege ist Aufgabe der Familie, vor allem der Frauen – «auch bis zur völligen Erschöpfung». Sich externe Unterstützung zu holen wird häufig als Schande empfunden.

Sümeyra Öztürk setzt sich für ein bundesweites Netzwerk für demenzkranke Menschen mit Migrationshintergrund ein.Demenz Support Stuttgart

Doch persönliche Geschichten inspirieren: «Wir zeigen Beispiele, wie die Versorgung von Menschen mit Demenz gewährleistet werden kann und die Familie immer noch daran teilhat. Das lockert das teilweise starre Festhalten.» Und inzwischen findet ein Umdenken statt. «Es ist ein Bewusstsein für den gesamtgesellschaftlichen Wandel da»

Sümeyra Öztürks Grosseltern sind im Zuge der Gastarbeitermigration nach Deutschland eingewandert. Sie werden von Frau Öztürks Eltern gepflegt, sie selbst packt ebenfalls regelmässig mit an.

«Fragt man aber die Generation meiner Eltern, wie sie später gepflegt werden will, lautet die Antwort: extern. Weil sie wissen, wie viel Kraft es kostet», sagt Sümeyra Öztürk.

Sie gehört zur dritten Generation und ist hier aufgewachsen. Die Aufgabe ihrer Generation sieht sie darin, über Hilfsangebote zu informieren und den Blick für die eigenen Bedürfnisse zu schärfen. «Denn es gibt für alles eine Lösung, man muss nur an der richtigen Stelle klopfen.

Heimweh im Heim – besonders ausgeprägt bei Erkrankten mit Migrationshintergrund:

Heimweh

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Bei den lokalen Treffen geht es auch um Dinge wie Pflegeversicherung, Sachleistungen, Pflegegeld oder Unterstützungsangebote. Viele Betroffene sind hier zurückzuhaltend. Das liegt nicht nur an etwaigen Sprachbarrieren.

Frühere, negative Erfahrungen mit Ämtern hemmen sie, Ansprüche geltend zu machen. Und die Angst, für jede Leistung bezahlen zu müssen.

Diese Erfahrung macht auch Aida Kalamujic. Seit 2006 leitet sie bei der HEKS-Regionalstelle Zürich/Schaffhausen das Programm «AltuM» (Alter und Migration), das sich an Migrantinnen und Migranten über 55 richtet.

Neben Aktivitäten wie Yoga, Gymnastik oder Tanzen veranstaltet sie Informationsanlässe und Kaffeetreffs. Das Thema Demenz thematisiert sie ‹durch die Hintertür›.

Aida Kalamujic informiert möglichst informell über Demenz.Aida Kalamujic

«Demenz ist mit Scham und Angst behaftet. Die Familien sprechen nicht gern darüber, vorhandene Strukturen werden wegen fehlender Kenntnis oder negativer Erfahrungen kaum genutzt.»

Deshalb verteilt Aida Kalamujic Broschüren, die die Besucher der Kaffeetreffs zuhause in Ruhe anschauen können. «Dann rufen sie uns an und fragen nach. Nur so kann man Menschen dazu bringen, Angebote von anderen Institutionen anzunehmen.»

Ob und in welchem Ausmass Pflegedienstleistungen angenommen werden, hat auch damit zu tun, wie Demenz erklärt wird. Während Demenz im deutschsprachigen Raum als neurodegenerative Erkrankung gilt, wird sie in anderen Kulturen mitunter als normale Altersentwicklung oder als Strafe Gottes verstanden.

Weitere Unterschiede zwischen der Situation von Menschen mit respektive ohne Migrationshintergrund liegen im höheren Armutsrisiko und dem durchschnittlich schlechteren Gesundheitszustand. Hinzu kommen je nach Migrationsbiografie Erfahrungen von Verlust, Krieg, Gefangenschaft, Armut, die unter der Oberfläche lauern. Und das Gefühl, fremd zu sein.

Demenziell veränderte Menschen mit Migrationshintergrund erleben eine «doppelte Entfremdung».

Durch die Erkrankung werden sie sich zum einen selbst fremd. Gleichzeitig wird das Fremdsein in der Gesellschaft wieder aktuell, da diese wenig auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingeht.*

Besonders deutlich wird dies im Heimkontext. Das Essen schmeckt nicht wie zuhause, statt des üblichen Tees gibt es Kaffee zum Frühstück. Die Gepflogenheiten sind anders, die Sprache unverständlich; zuletzt erworbene Sprachkenntnisse verlieren Menschen mit Demenz oft als erstes.

Tee oder Kaffee zum Frühstück? Eine Frage des kulturellen Hintergrunds.Demenz Support Stuttgart

Einige Pflegeheime verfügen inzwischen über mehrsprachiges Personal. In der Einsatzplanung ist es jedoch kaum möglich, dass die russische Bewohnerin stets vom russischsprachigen Pfleger betreut wird.

Deshalb ist der Einbezug der Familie zentral. «Familien sind eine grosse Ressource», findet Sümeyra Öztürk. «Nur sie können den Pflegenden erzählen, wer dieser Mensch war, falls er es selbst nicht mehr kann.» Und sie leisten wertvolle Übersetzungs- und Betreuungsarbeit.

Damit die Zusammenarbeit zwischen Angehörigen und Heim funktioniert, ist es gemäss Aida Kalamujic nötig, Bedürfnisse und Erwartungen zu klären. Ausserdem brauche es mehr kulturelle Sensibilität, damit sich Betroffene wahrgenommen und verstanden fühlen.

«Pflegende sollten die spezifischen Migrationsverläufe und Lebensgewohnheiten kennen.»

Aida Kalamujic

In Sachen Kultursensibilität ist Australien als einwanderungsgewohntes Land international weit voraus. Die Alzheimergesellschaft bietet Infos in 43 Sprachen an, Plattformen für pflegende Angehörige und Fachkräfte thematisieren kulturelle Besonderheiten, die Broschüre «Bridging Cultures» fasst Eckdaten verschiedener Kulturen zusammen.

Doch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz arbeitet in Kooperation mit Demenz Support Stuttgart daran, dass sich auch hierzulande einiges tut. Auf der Website www.demenz-und-migration.de erhalten Besucher Informationen auf Türkisch, Russisch, Polnisch, Englisch und Arabisch. Zudem finden sie Erklärfilme zu zentralen Themen und eine Netzwerkkarte, die bundesweit Anlaufstellen zeigt.

Fachkräfte erhalten auf der Website Einblicke in kulturelle Besonderheiten. Wer nun fürchtet, dass er oder sie als Pflegefachkraft über ein umfassendes kulturelles Wissen verfügen muss: Dem ist nicht so. Sümeyra Öztürk betont:

«Kultursensibilität bedeutet, neugierig zu sein auf das Leben, die Gewohnheiten und Traditionen des anderen.»

Eigene Vorstellungen müssen dabei immer hinter die Bereitschaft zurücktreten, für den Menschen offen zu sein, dem man gegenübersteht.

Sozialintegratives Wohnen in Hamburg: Im Wohnhaus Veringeck leben türkische und deutsche Senioren, die auf Pflege angewiesen sind.Robert Bosch Stiftung

Dasselbe gilt für die Institutionen. «Oft behaupten Institutionen, sie seien kultursensibel, wenn sie Broschüren auf Russisch und Türkisch anbieten.» Doch das genügt nicht. Sümeyra Öztürk fordert Austausch, um mit den Betroffenen zu klären, was sie wirklich benötigen. Dazu gehören unter anderem:

  • verständliche, einfach zugängliche Informationen
  • mehr explizit kultursensible Einrichtungen, die mit kürzeren Wegen zu erreichen sind
  • mehr finanzielle Ressourcen für Vereine, die das Thema Demenz in die Migrationsbevölkerung tragen
  • weniger Bürokratie, schnellere Umsetzung auf institutioneller Ebene

Auf behördlicher Ebene liegt einiges im Argen. Zuständigkeitsgrenzen und Sprachbarrieren erschweren die Arbeit.

Wie wichtig das unkomplizierte Einschalten von Übersetzern ist, hat Sümeyra Öztürk selbst eindrücklich erlebt. Sie wurde von Kollegen aus der Wohnungsnothilfe spontan als Übersetzerin angefragt, weil diese mit ihrer türkischen Klientin nicht mehr weiterkamen:

«Die Frau war kurz davor, wegen Mietschulden ihre Wohnung zu verlieren. Sie erzählte mir, dass sie seit einem Jahr in Chemotherapie sei und ihr Mann während dieser Zeit die Finanzgeschäfte übernommen habe. Erst nach einer Stunde hat sich herausgestellt, dass ihr Mann eine Demenz hat.»

Angesprochen auf die Nationale Demenzstrategie wünscht sich Sümeyra Öztürk vor allem eines: Verbindlichkeit. Grosse Träger wie öffentliche Behörden müssen in die Verantwortung gezogen werden, Kultursensibilität umzusetzen. Etwa indem sie die Ressourcen erhalten, Dolmetscher einzuschalten, und Zuständigkeiten flexibler gehandhabt werden.

Ressourcen sind auch nötig, wenn es darum geht, funktionierende Projekte über die Entwicklungslaufzeit hinaus weiterzuführen.

Zum Beispiel MiMi, eine Initiative des Ethno-Medizinischen Zentrums. MiMis agieren als Lotsen in lokalen Migrantencommunities mit dem Ziel, die Gesundheitskompetenz zu fördern. Doch auch wenn der Nutzen unbestritten ist: «Wir bekommen nicht von jedem Bundesland finanzielle Unterstützung, um das Konzept aufrechtzuerhalten.»

Der Weg ist noch weit. Wie viel es nützt, dass Kultursensibilität nun Teil der neuen Demenzstrategie ist, bleibt abzuwarten.

Herausforderung kultursensible Pflege:

Quelle Youtube

*Zur «doppelten Entfremdung» vgl. Christa Hanetseder: Wenn es Migrantinnen und Migranten trifft. In: Irene Bopp-Kistler (Hg.): Demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven. rüffer & rub (2016). S. 426–434.