Heime sind keine Spitäler! - demenzjournal.com

Blick in die Zukunft

Heime sind keine Spitäler!

Vincenzo Paolino mit einer kleinen Gruppe betroffener Menschen beim Mittagessen. privat

Die heutige stationäre Unterbringung von Menschen mit Demenz entspricht häufig nicht dem, was sie eigentlich brauchen. Vincenzo Paolino beleuchtet heutige Unsitten und zeigt auf, wie ein Paradigmenwechsel in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz gelingen könnte.

1789, 1948, 1964: Diese drei Jahreszahlen stehen für Fortschritte, die erkämpft und erlitten werden mussten:

🔎 1789 – Die französische Revolution als Befreiung von Feudalismus und Unmündigkeit.

🔎 1948 – Die UN-Erklärung der Menschenrechte als Reaktion auf den Horror der Nazizeit und des 2. Weltkriegs.

🔎 1964 Der U.S. Civil Rights Act mit dem Ziel gleicher Wahlrechte für Schwarze in allen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten.

In all diesen Fällen ging es um Unterdrückung, fehlende Grundrechte, Unfreiheit und die Unmöglichkeit eines würdevollen und selbstbestimmten Lebens. Ich zeige in diesem Beitrag auf, dass wir in der institutionellen Betreuung und Pflege nicht nur, aber insbesondere von Menschen mit Demenz, dringend einen ähnlichen Moment der Wahrheit und der Besinnung auf die Grund- und Menschenrechte benötigen.

Die heutige stationäre Unterbringung von Menschen mit Demenz entspricht häufig nicht dem, was sie eigentlich benötigen. Sind wir ehrlich: Wenn in der Politik der Bedarf nach Pflegeheim-Betten erkannt ist, dann geht das so: Es braucht 70 oder 100 neue Betten, man fragt einen Architekten oder Generalunternehmer, der sagt: Das machen wir Ihnen. Wir wissen, wie das geht. Haben wir schon gemacht.

Dazu gesellt sich eine Fachperson Pflege aus dem Spitalumfeld, die in den Architektensitzungen nach bestem Wissen für ein möglichst großes Stationszimmer kämpft. Und schon haben wir wieder ein neues Heim nach dem Modell von 1975 oder früher. Ein Heim nach den Regeln des Spitalparadigmas.

Vincenzo Paolino

Vincenzo Paolino ist 1965 in München geboren und aufgewachsen. Nach dem Psychologie-Studium absolvierte er in der Schweiz eine Ausbildung zum Psychiatriepfleger. In Zürich arbeitete er mehrere Jahre in der Leitung eines Aids-Hospizes, danach führte er 13 Jahre lang erfolgreich den Bereich Pflege und Betreuung in einem Pflegeheim. Gemeinsam mit Liliane Peverelli gründete er 2008 Spectren – Exzellenz im Altersbereich. Seit 2013 bietet die Spectren AG mit Almacasa – selbstbestimmt umsorgt ein innovatives Angebot im Altersbereich.

Vincenzo Paolino tritt an nationalen und internationalen Kongressen als Redner zum Thema Kulturwandel im Altersbereich auf. Der vorliegende Artikel gründet auf einem Referat, das er am 6. März 2024 im Volkshaus Zürich zum 30-jährigen Jubiläum von Alzheimer Zürich hielt.

Das Spitalparadigma

Was ist damit gemeint? Die Pflege älterer und kranker Menschen war im Europa des Mittelalters Sache der Klöster. Dann, Ende des 19. Jahrhunderts, gab es einen enormen Schub in der medizinischen Forschung und Entwicklung. Denken wir an Röntgenstrahlen, Narkose, Antibiotika, Impfungen und viele weitere Errungenschaften.

Aus Nonnen wurden Krankenschwestern, und Pflege war nun Teil des neu entstehenden Krankenhauswesens. Chef im Spital war natürlich der Chefarzt, und es gab eine fachlich begründete, steile Hierarchie. Klare und normierte Abläufe waren und sind erforderlich, um gute Diagnostik zu machen und die medizinischen Eingriffe erfolgreich durchzuführen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich kritisiere nicht das Spital an sich. Die Segnungen der modernen Medizin stelle ich nicht in Abrede, habe ich diese – wie vielleicht manch einer von Ihnen auch – glücklicherweise schon selbst erleben dürfen.

Das Problem dabei: Man übernahm das erfolgreiche Spitalmodell und machte daraus in den 1950er-Jahren unbewusst das Spitalparadigma für den Bau und Betrieb von Pflegeheimen. Und das überall auf der Welt, jedenfalls dort, wo die finanziellen Möglichkeiten dafür vorhanden waren. Das war und ist eine Fehlentwicklung, die zu schlechten Ergebnissen führt.

In genau so einem neuen Heim war ich von einem Jahr zur Eröffnung, zum Tag der offenen Tür, nur unweit von Zürich.

Stellen Sie sich das so vor: 150 Betten auf 5 Stockwerken, direkt am Spital angeschlossen. Also 30 Menschen pro Station. Es gibt pro Stock jeweils einen großen Aufenthaltsraum, wo nichts wirklich Interessantes passiert. Die kleine Einbauküche hat eher dekorativen Charakter, das Essen kommt aus der Spitalküche.

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Licht

Bei Menschen mit Demenz lässt die Sehkraft nach. Dies schadet der inneren Uhr und fördert die Sturzgefahr. Das richtige Licht kann Abhilfe schaffen. weiterlesen

Im großen, quadratischen Grundriss des Gebäudes wurde eine gewaltiger Innenhof gestaltet, denn irgendwie mussten die Architekten ja Licht in den Würfel bringen. Darin stehen drei riesige Metallteile, die jeweils an eine Blume erinnern sollen, sowie einige versprengte Stühle, ebenfalls aus Metall. Eher trist.

In den Gängen sehe ich Kameras und dazu im selbstverständlich verglasten Stationszimmer die entsprechenden Monitore. Sind wir hier in einem Gefängnis? Ich beobachte die in der großen Mehrzahl älteren Besucherinnen und Besucher. Ich höre, wie sie einander zuraunten: Möchtest Du hier leben? Und ich frage mich: Würde ich hier gern arbeiten?

Therapie als Unwort

Haben Sie das auch schon bemerkt: Vieles, das eigentlich zum normalen Leben gehört, heißt im Pflegeheim plötzlich Therapie. Eben noch hatten Sie Freude an Ihrem Hund oder ihrer Katze, doch nun erhalten Sie im Heim eine Tiertherapie. Sie haben vielleicht gern gekocht? Jetzt heißt es einmal pro Woche Aktivierungstherapie mit Schwerpunkt Kochen.

Ich stelle mir manchmal vor, wie das ist, wenn ich in einem Pflegeheim lebe und abends Hunger kriege. Da es keinen Kühlschrank gibt, an dem ich mich bedienen kann, muss ich die Pflege fragen. Ganz sicher steht dann im Pflegebericht: Der Herr Paolino erhielt eine Joghurt-Therapie.

Wenn man als Mensch mit einer demenziellen Erkrankung auf dieses System trifft, kann das nur schiefgehen. Äußerungen von Menschen, die mit Demenz leben, werden in diesem Rahmen zu schnell pathologisiert. Im Pflegeheim setzen wir bei ihnen höhere Maßstäbe an als bei uns selbst. Ein paar Beispiele:

😠 Wir werden wütend, traurig, frustriert oder ängstlich, aber Menschen mit Demenz zeigen ein »herausforderndes Verhalten«.

🚶Wir gehen spazieren, oder gehen weg, wenn wir uns langweilen, aber Menschen mit Demenz haben das »Wander-Syndrom«.

😡 Wir mögen es nicht, von Fremden eingesperrt, herumkommandiert oder angefasst zu werden, aber Menschen mit Demenz werden »unruhig und aggressiv«.

Eine Almacasa-Standortleiterin fährt kürzlich in eine namhafte psychiatrische Klinik der Region. Dort möchte sie einen Patienten besser kennenlernen, der ins Almacasa einziehen möchte oder vielleicht auch einziehen muss, weil es zu Hause nicht mehr geht. Sie stellt den Angehörigen, den Mitarbeitenden und auch der Ärztin ein paar Fragen.

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Würde

Die Würde ist der oberste Wert des Grundgesetzes und der Menschenrechte. Auch die Würde von Menschen mit Demenz ist unantastbar. weiterlesen

Wer denn der Herr X. so sei? Was ihn ausmache? Was ihm wichtig sei im Moment? Oder auch früher im Leben? Was er gearbeitet hat? Also ganz – wie ich finde – gerechtfertigte und professionell wichtige Fragen. Wissen Sie, wie die Reaktion war? Die Angehörigen waren vollkommen überrascht. Nie habe jemand solche Fragen gestellt. Aber es gefiel Ihnen. Dennoch: Auf die Fragen wusste niemand eine Antwort.

Die langjährig tätige Ärztin war ebenfalls perplex. Nie würde jemand aus einem Pflegeheim solche Fragen stellen, wenn sie einen Patienten oder eine Patientin abholten. Der Arztbericht und die Diagnoseliste würden reichen. Und den Besuch einer Mitarbeitenden des Pflegeheimes habe es kaum jemals gegeben.

Dabei wissen wir es alle: Kennt man einen Menschen mit Demenz, kennt man nur diesen. Jeder Mensch ist anders – wir sind multidimensionale und komplexe Wesen.

Wir werden beeinflusst von unseren Genen, der Umwelt, unserer Psychologie, unserem sozialen und spirituellen Sein. All das beeinflusst sich wiederum gegenseitig – und halten Sie sich fest: Es beeinflusst auch unsere Gehirnfunktionen. Aus diesem Grund brauchen wir einen ganzheitlichen Ansatz in der Demenzpflege.

Wir brauchen keine Spitalarchitektur, keine Spitalstrukturen, keine dauerhaft geschlossenen Demenzstationen mit 25 oder mehr Patienten. Glauben Sie mir: Jeder von uns würde nach wenigen Tagen in einer solchen Umgebung aggressiv werden und müsste dann wohl sediert werden.

Was aber brauchen wir?

Wir brauchen Menschen auf allen Ebenen der Betreuung und Pflege, die sich auf humanistische Werte besinnen und diese in ihrem Tun und Handeln auch umsetzen. Wir brauchen Menschen, die sich für Freiheit, Vernunft und positive Veränderung einsetzen.

Zum Beispiel eine achtsame Sprache, denn Sprache bestimmt das Denken. Und Denken das Handeln und damit die Realität. Darum lassen Sie uns gemeinsam aufpassen, wie wir reden und schreiben über Menschen mit Demenz.

Lassen Sie uns aufhören mit pseudo-psychiatrischen Zuschreibungen: Demenz sei irgendwie etwas wie eine frühe Schizophrenie – eine gewagte und grundfalsche These, die von manchen Psychiatern leider heute noch und immer wieder in Büchern und den Medien verbreitet wird. Demenz ist eben gerade nicht eine Persönlichkeitsstörung. Die WHO schreibt in ihrer Definition über die Erkrankung dazu klar:

«Demenz ist ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer, kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist nicht getrübt.»

Schmeißen wird den Begriff »dement« doch ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte, weil es ein teuflisches Label ist, das uns den Menschen dahinter vergessen lässt.

Wir brauchen Orte für Menschen mit Demenz, wo folgende Elemente im Vordergrund stehen. Bei Almacasa nennen wir sie die sieben Domänen des Wohlbefindens.

🤠 Identität – man kennt mich, weiß wer ich war und wer ich bin

🤠 Größtmögliche Autonomie – Zimmer einrichten, ausschlafen, Besuch empfangen, faulenzen, rumhängen

🤠 Sicherheit – möglichst frei von Angst sein, behütet und umsorgt sein

🤠 Sinnvolles Tun – nicht unterfordert, nicht überfordert, Teil sein der Alltagsgestaltung

🤠 Genuss – Freitag ist Apéro-Time, und es gibt nicht nur Tee

🤠 Wachstum – jeder Mensch kann wachsen, bis zum letzten Tag, bis zur letzten Stunde

🤠 Zusammengehörigkeit – kleine Gruppen ermöglichen die Bildung von Freundschaften

1789, 1948 und 1964 – Helfen Sie mit, dass jedes Jahr ab heute zum Jahr der Veränderung wird für Menschen mit Demenz.

Was können Sie dafür tun?

⚙ Sind Sie eine Person, die in politische Entscheidungen involviert ist in Bezug auf Betreuung und Pflege? Und spüren Sie, dass eine Veränderung notwendig ist?

Dann bitte fragen Sie sich bei neuen Projekten oder Renovationen: Würde ich mich selbst, meine Mutter, meinen Vater oder meine Frau an diesem Ort sehen? Fragen Sie Planer, Architekten und Betreiber, welche Möglichkeiten sinnstiftender Beschäftigungen im Konzept für die Menschen vorgesehen sind, die dort leben werden. Lassen Sie sich nicht einreden, dass es mindestens 100 Betten braucht, damit ein Pflegeheim wirtschaftlich funktioniert.

⚙ Sind Sie Leiter:in einer Pflegeeinrichtung, die baulich nicht ganz so befriedigend ist und spüren Sie, dass eine Veränderung nötig ist?

Dann stärken Sie ihr Team, denn dieses versucht jeden Tag diese Mängel mit emotionaler Arbeit zu kompensieren. Gewinnen Sie den Stiftungsrat für die revolutionären Ideen, die ich Ihnen gerade in den Kopf setze und seien Sie beharrlich bei der Umsetzung.

⚙ Sind Sie selbst betroffen oder als angehörige Person, und spüren Sie, dass eine Veränderung nötig ist?

Dann mein Rat: Suchen Sie sich einen Ort aus, wenn es irgendwie geht, wo sie sich wohlfühlen, wo es gut riecht, wo man bei der Einrichtung liebevolle Details sieht und wo man Sie beim Betreten des Raums freundlich begrüßt. Fragen Sie nach dem Tagesablauf, setzen sie sich eine halbe Stunde zu den Bewohnenden und finden Sie heraus, wie es Ihnen dabei geht.

Wenn wir alle zusammenstehen und uns nicht mehr bieten lassen, was Menschen mit Demenz schadet, dann werden wir es schaffen.

Man wünscht sich ja manchmal einen Knall oder eine Revolution, die mit einem Schlag alles verbessert. Und doch kann ich Ihnen diese Wahrheit nicht verschweigen: Es wird nicht in Monaten oder den nächsten Jahren gelingen, denn es braucht viel für diese Veränderung. Lassen Sie uns also auf dem Weg dorthin stets kleine Erfolge feiern.

Lassen Sie uns feiern, wenn es da und dort einen Moment der Wahrheit, einen Moment der Besinnung auf die Grund- und Menschenrechte gibt.

Zu guter Letzt ein Zitat von Barack Obama: Es muss nicht perfekt sein. Es muss besser sein. Besser ist gut.

Video: Problemfall Demenz – Neue Wege in der Pflege

Eine Zivilisationskrankheit als Herausforderung für die ganze Gesellschaft. YouTube/spectren