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«Die Politik redet sich aus der Verantwortung»

Bessere Bedingungen für Menschen mit Demenz und ihre Pflegenden: Dafür setzt sich Barbara Gysi ein. Bild Mara Truog

Barbara Gysi setzt sich als Nationalrätin für die Anliegen von alten und benachteiligten Menschen in der Schweiz ein. alzheimer.ch sprach mit ihr über Corona, Autonomie, Wertschätzung und Gesundheitskosten.

alzheimer.ch: Frau Gysi, wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?

Barbara Gysi: Ich persönlich bin gut über die Runden gekommen. Ich habe daheim gute Bedingungen zum Arbeiten, und ich komme auch schnell in die Natur. Ich hatte viele Videokonferenzen und Telefonate. Ich hatte intensive Kontakte zu Heimen und Pflegenden.

Von der Spitex und aus den Heimen hörte ich, dass es Probleme gab bei der Beschaffung von Schutzmaterial. Der Heimverband vermittelte aber nicht das Gefühl, dass er Unterstützung bräuchte. Das hat mich irritiert.

Warum?

Die Institutionen fanden, sie könnten das allein bewältigen, wie früher mit dem Norovirus. Ich sprach Heime und ihren Interessenverband immer wieder auf die verschiedenen Problemstellungen an. Ich sprach es auch in der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) an.

Ich merkte aber, dass diese Themen beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) in dieser Phase nicht zuoberst auf der Agenda waren. Ich finde, es wäre wichtig gewesen, sie weiter hinauf zu nehmen.

Sie reichten in der Sommersession ein Postulat ein …

Ja, es geht um die Auswirkungen in den Heimen – unter anderem auch um Demenz. Einige Heime haben es gut gemacht, bei anderen ist es nicht gut gelaufen – vor allem für die Bewohnenden mit Demenz und ihre Angehörigen. Ich hörte haarsträubende Sachen.

Was denn?

In einem Fall informierte ein Heim einen Angehörigen nicht, dass seine demente Mutter an Covid-19 erkrankt war. Er wandte sich an die Behörden und wurde nicht gehört.

Barbara Gysi (56) ist Nationalrätin, Vizepräsidentin der SP Schweiz und Mitglied der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit. Sie engagiert sich für die Pflegeinitiative und lebt in der Ostschweizer Stadt Wil. Als Stadträtin leitete sie dort von 2005 bis 2012 das Ressort Soziales, Jugend und Alter.PD

Das Postulat verlangt einen Bericht, wie die Langzeitpflege mit der Coronakrise umgegangen ist. Es verlangt, dass die Heime für eine zweite Welle besser gerüstet sind – besonders jene Institutionen, in denen Menschen mit besonderen Bedürfnissen leben.

Ich finde, es geht nicht, dass man die Freiheit der Bewohnenden so stark einschränkt. Einzelne durften anfangs nicht einmal mehr in den Garten gehen. Es muss auch klarer definiert sein, wie die Angehörigen und Beistände informiert werden und wie Kontakte möglich sind.

Es geht auch um eine Frage, die kaum allgemeingültig zu beantworten ist. Was schadet einem alten Menschen mehr: das Coronavirus oder eine monatelange Isolation?

Es ist nicht einfach, gute Lösungen zu finden. Wenn man während der Isolation massive Verschlechterungen im Gesamtzustand der Gesundheit bemerkt, sollten Besuche möglich sein. Man muss aber die Kontakte auf ganz wenige Leute einschränken, die spezielle Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen. 

Es ist grosse Vorsicht geboten. In jenen Heimen, die vom Virus befallen wurden, starben innert Kürze bis zur Hälfte der Bewohner …

Ja, es ist eine Abwägung. Man weiss aber, dass Ansteckungen auch über das Personal geschehen sind. So lange wir keine Impfung haben, ist es sehr schwierig. Vielleicht könnten die einzelnen Abteilungen getrennt werden und wie WGs funktionieren, in denen immer die gleichen Menschen verkehren und arbeiten. So könnte man auch gewisse Angehörigenkontakte zulassen.

Erfreulich war, dass ein Grossteil unserer Gesellschaft mitgeholfen hat, alte und schwache Menschen zu schützen und zu unterstützen. Wie haben Sie die Solidarität in Ihrem Umfeld erlebt?

Ich wohne eineinhalb Stunden von meinen über 90-jährigen Eltern entfernt. Zwei Studentinnen haben in dieser Zeit für sie eingekauft. Bekannte haben ihnen etwas in den Briefkasten gelegt. Ich habe auch in meinem Wohnquartier wahrgenommen, wie die Nachbarschaftshilfe angelaufen ist. Die Solidarität wird jetzt mit der Zeit stark gefordert.

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Die Menschen fielen in ihre alten Muster zurück. Die extremen gesellschaftlichen Pole wurden bald sichtbar und sogar verstärkt.

Es war für alle eine schwierige Zeit. Home Schooling und Home Office sind anspruchsvoll – vor allem, wenn man eine kleine Wohnung hat. Die Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, waren unter Druck. Viele Leute haben auch Existenzängste.

Es hat sich gezeigt, dass es nicht monatelang so funktionieren kann. Es war Angst da, und jetzt werden wir zugemüllt von kruden Theorien. Wertschätzung heisst hier: gut aufklären und nicht nur Verbote aussprechen.

Wertschätzung gab es auch für die Pflegenden. Wird davon etwas bleiben?

Im Juli haben wir erlebt, wie der Ständerat den indirekten Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative abgeschwächt hat. Das zeigt, dass es ein steiniger Weg ist, wenn es um bessere Arbeitsbedingungen geht. Die Gegner der Initiative sagen, man könne dies nicht auf der Gesetzesebene regeln, es gehöre in die Sozialpartnerschaft.

Gleichzeitig haben wir im privaten Bereich des Gesundheitswesens kaum Gesamtarbeitsverträge. Die Politik redet sich da aus der Verantwortung. Es geht auch um die Bezahlung. Nicht alle im Gesundheitswesen verdienen schlecht. Aber es gibt eine enorme Spannweite zwischen Chefärzten, Fachangestellten und Pflegehilfen.

Alle wollen ein gutes Gesundheitssystem. Aber niemand will noch höhere Krankenkassenprämien bezahlen…

Studien zeigen auf, dass gute Betreuung und Pflege Eintritte ins Spital verhindern. Mit einem besseren Betreuungs- und Pflegeschlüssel kann man also Kosten sparen.

Die hohen Gesundheitskosten entstehen durch unnötige Behandlungen und Operationen, durch Untersuchungen, mit denen man die vielen Geräte auslasten will. Was nützt beste medizinische, technische und pharmazeutische Betreuung, wenn der psychische Prozess falsch läuft?

Statt Wertschätzung der Pflege gibt es eine Misstrauenskultur, die sich in einem fragwürdigen Dokumentations- und Kontrollsystem zeigt.

Ich würde es nicht als Misstrauenskultur bezeichnen. Es hat ja auch mit Qualitätssicherung zu tun. Aber der Aufwand für die Dokumentation hat ein Ausmass erreicht, das kaum mehr zu rechtfertigen ist.

Die Kontrolleure interessieren sich nicht für die Qualität der Pflege. Sie wollen nur wissen, ob die Formulare richtig ausgefüllt sind.

Man hat ein System eingeführt, das man aus anderen Bereichen kennt. Man hat die Leistungen aufgesplittet, was in meinen Augen ein Qualitätsverlust ist. Ich finde es falsch, dass man zur Subjektfinanzierung gegangen ist und nicht einem Heim das Defizit deckt.

Man hat Fehler gemacht, und es wird schwierig sein, diese rückgängig zu machen. Ich habe vor Jahren ein Postulat eingereicht, dass man Pflege und Betreuung wieder als Einheit sieht. In anderen Ländern gibt es gute Modelle, wo man die Pflege an und für sich in den Mittelpunkt stellt – und nicht das Erbringen von Leistungen.

Ich glaube, dass unser System kostentreibend ist, und dass wir Wege zurück finden müssen. Diese Problematik gibt es nicht nur im Gesundheitswesen. Es gibt den Trend, dass man Angestellte mehr führen und überwachen will. Diese Kultur nimmt die Autonomie und die Motivation, sie ist nicht gut.

Der Zeitgeist ist auf jung, stark und schön getrimmt. Wie kann die Politik dafür sorgen, dass alte und gebrechliche Menschen wieder mehr wertgeschätzt werden?

Wir werden an unserem Parteitag im Oktober ein umfassendes Alterspapier diskutieren. Da sind auch Fragen der Wertschätzung drin. Auch beim Rentenalter und bei den Kosten für die Renten. Es heisst immer: Die Alten kosten zu viel, die Heime sind zu teuer, die Gesundheitskosten für die Alten sind zu hoch.

Man vergisst, was die alten Menschen alles geleistet haben und auch heute noch leisten. Viele von ihnen sind als Grosseltern stark im Einsatz, leisten als Freiwillige viel.

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Diese mangelnde Wertschätzung fällt dann auch auf die Pflegenden und Institutionen zurück. Niemand will ins Heim, alle wollen gesund und zu Hause sterben. Das Heim ist die allerletzte Lösung…

Heime wird es immer brauchen. Es hat sich aber verändert, die Leute gehen heute später ins Heim. Die Heime müssen sich baulich und organisatorisch anpassen. Es braucht mehr Individualität und Durchlässigkeit von stationären, teilstationären und ambulanten Angeboten. Viele Heime sind in einem Veränderungsprozess.

Temporäre Aufenthalte helfen und zeigen, dass die Räume angenehm und die Leute umsorgend sind.Es braucht möglichst viel Autonomie und Eigenständigkeit. Wenn die Menschen das wahrnehmen, gibt es weniger Stigmatisierung.

Sie setzen sich als Politikerin für benachteiligte und alte Menschen ein. Wird Ihre Arbeit genug wertgeschätzt?

Das war für mich nie so relevant. Ich habe mich immer in Bereichen engagiert, in denen es keine grosse Lobby gibt. Behinderte, Alte, Jugendliche …

Véronique Hoegger

Die Sinnhaftigkeit Ihrer Arbeit treibt Sie also mehr an als die Bestätigung …

Ich habe eine hohe innere Motivation. Der Altersbereich ist sehr dynamisch und spannend. Alter hat nach aussen etwas Eindimensionales, aber es ist extrem vielschichtig. Es gab in den letzten 20 bis 30 Jahren viel Innovation.

Alter ist nicht das Thema, in dem man am wenigsten wertgeschätzt wird. Ich bin zum Beispiel noch nie beschimpft worden, weil ich mich für alte Menschen einsetze. Aber wenn ich gegen eine Asylgesetzrevision Unterschriften sammle, werde ich beschimpft.

Wenn Sie als Stadtpräsidentin Ihren Wohnort Wil mit einem schönen Budget altersfreundlicher machen könnten: Was würden Sie unternehmen?

Ich würde die Beratungsangebote noch etwas ausbauen. Und ich würde die Gestaltung des öffentlichen Raums bedürfnisgerechter machen. Es soll in den Quartieren Treffpunkte und Einkaufsmöglichkeiten geben.

Man soll sich lebensraumnah bewegen können, und der öffentliche Verkehr sollte entsprechend gestaltet sein. Wil hat zwar viel gemacht, aber beim Baulichen sind wir nicht dort, wo wir sein müssten.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Die Politik der letzten Jahre war vom Neoliberalismus geprägt, die Parlamente sind in bürgerlicher Hand. In diesem Umfeld haben Sie mit Ihren sozialen Anliegen einen schweren Stand. Frustriert Sie das manchmal?

Die Grenzen werden vor allem dann spürbar, wenn es Geld braucht. Es ist aufwendig, wenn man in der Minderheit ist. Man muss sich oft überlegen, wo man Verbündete findet für seine Anliegen. Manchmal findet man sie in Kreisen, in denen man nicht damit rechnen würde.

Im Grossen und Ganzen rennen wir gegen Windmühlen an. Trotzdem können wir für Kranke, Pflegende und Angehörige immer wieder etwas erreichen.


Stellungnahme


von Michael Schmieder (Verwaltungsrat der Sonnweid AG) und Petra Knechtli (Leiterin Sonnweid das Heim)

Wir finden es bemerkenswert, wenn eine Politikerin die Altersarbeit auf ihre Fahnen schreibt, und bedanken uns bei Barbara Gysi für ihr Engagement. Innerhalb unserer Redaktion gingen die Meinungen über ihre Aussagen aber stark auseinander. Warum?

Einerseits scheint Frau Gysi die Pflegeinitiative als Grundlage für die Wertschätzung gegenüber den Pflegenden zu verstehen. Wer gegen die Pflegeinitiative ist, bringt den Pflegenden keine Wertschätzung entgegen. Dies können wir nicht nachvollziehen.

Anderseits will Frau Gysi mit der Aufbereitung der Corona-Pandemie noch mehr Bürokratie produzieren. Zu befürchten ist eine weitere Ausweitung eines ineffizienten Kontrollapparates.

Wir werden mit Frau Gysi in Kontakt bleiben und freuen uns auf den Austausch mit ihr. Darüber werden wir demnächst weiter berichten.