alzheimer.ch: Frau Gysi, wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?
Barbara Gysi: Ich persönlich bin gut über die Runden gekommen. Ich habe daheim gute Bedingungen zum Arbeiten, und ich komme auch schnell in die Natur. Ich hatte viele Videokonferenzen und Telefonate. Ich hatte intensive Kontakte zu Heimen und Pflegenden.
Von der Spitex und aus den Heimen hörte ich, dass es Probleme gab bei der Beschaffung von Schutzmaterial. Der Heimverband vermittelte aber nicht das Gefühl, dass er Unterstützung bräuchte. Das hat mich irritiert.
Warum?
Die Institutionen fanden, sie könnten das allein bewältigen, wie früher mit dem Norovirus. Ich sprach Heime und ihren Interessenverband immer wieder auf die verschiedenen Problemstellungen an. Ich sprach es auch in der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) an.
Ich merkte aber, dass diese Themen beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) in dieser Phase nicht zuoberst auf der Agenda waren. Ich finde, es wäre wichtig gewesen, sie weiter hinauf zu nehmen.
Sie reichten in der Sommersession ein Postulat ein …
Ja, es geht um die Auswirkungen in den Heimen – unter anderem auch um Demenz. Einige Heime haben es gut gemacht, bei anderen ist es nicht gut gelaufen – vor allem für die Bewohnenden mit Demenz und ihre Angehörigen. Ich hörte haarsträubende Sachen.
Was denn?
In einem Fall informierte ein Heim einen Angehörigen nicht, dass seine demente Mutter an Covid-19 erkrankt war. Er wandte sich an die Behörden und wurde nicht gehört.
Das Postulat verlangt einen Bericht, wie die Langzeitpflege mit der Coronakrise umgegangen ist. Es verlangt, dass die Heime für eine zweite Welle besser gerüstet sind – besonders jene Institutionen, in denen Menschen mit besonderen Bedürfnissen leben.
Ich finde, es geht nicht, dass man die Freiheit der Bewohnenden so stark einschränkt. Einzelne durften anfangs nicht einmal mehr in den Garten gehen. Es muss auch klarer definiert sein, wie die Angehörigen und Beistände informiert werden und wie Kontakte möglich sind.
Es geht auch um eine Frage, die kaum allgemeingültig zu beantworten ist. Was schadet einem alten Menschen mehr: das Coronavirus oder eine monatelange Isolation?
Es ist nicht einfach, gute Lösungen zu finden. Wenn man während der Isolation massive Verschlechterungen im Gesamtzustand der Gesundheit bemerkt, sollten Besuche möglich sein. Man muss aber die Kontakte auf ganz wenige Leute einschränken, die spezielle Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen.
Es ist grosse Vorsicht geboten. In jenen Heimen, die vom Virus befallen wurden, starben innert Kürze bis zur Hälfte der Bewohner …
Ja, es ist eine Abwägung. Man weiss aber, dass Ansteckungen auch über das Personal geschehen sind. So lange wir keine Impfung haben, ist es sehr schwierig. Vielleicht könnten die einzelnen Abteilungen getrennt werden und wie WGs funktionieren, in denen immer die gleichen Menschen verkehren und arbeiten. So könnte man auch gewisse Angehörigenkontakte zulassen.
Erfreulich war, dass ein Grossteil unserer Gesellschaft mitgeholfen hat, alte und schwache Menschen zu schützen und zu unterstützen. Wie haben Sie die Solidarität in Ihrem Umfeld erlebt?
Ich wohne eineinhalb Stunden von meinen über 90-jährigen Eltern entfernt. Zwei Studentinnen haben in dieser Zeit für sie eingekauft. Bekannte haben ihnen etwas in den Briefkasten gelegt. Ich habe auch in meinem Wohnquartier wahrgenommen, wie die Nachbarschaftshilfe angelaufen ist. Die Solidarität wird jetzt mit der Zeit stark gefordert.