Roter Backsteinbau, Haus 105. Ich gehe in ein weiss-getünchtes 4-Bett-Zimmer im zweiten Stock des Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge, Berlin-Lichtenberg (KEH), eine Einrichtung der Regelversorgung mit 620 Betten.
Zum Schutz vor der Februarsonne sind die orangefarbigen Vorhänge zugezogen. Nur ein schmaler Spalt lässt den Blick frei ins Grüne. Auf der rechten Zimmerseite befreit sich gerade ein weiss-haariger Mann von der Bettdecke. Er nestelt an der Plastikwindel und schiebt sein nacktes Bein über das Bettgitter.
Beim Senior daneben tropfen Reste einer Infusion. Er lächelt abwesend. – Ich, ein neues Gesicht von 30, dem er in fünf Tagen begegnet. Das Heimpersonal erkennt er später nur noch an einzelnen Stimmen.
Der Hochbetagte linker Hand blickt ernst und ratlos. Am Monitor des Patienten am Fenster klebt ein bunt ausgemaltes Bild: «Gute Besserung» ist zu lesen. «Das hat meine Urenkelin Antonia gemalt», sagt er stolz. «Sie ist drei.» Die Zigarette zwischen den Lippen des Mannes im Bild ist ein Fieberthermometer. Wir schmunzeln.
«Glück gehabt! Nur der Oberschenkelknochen ist gebrochen», erzählt er. «Als ich Altglas aus dem Auto in die Container werfen wollte, muss ich mit dem Fuss hängen geblieben sein.» Er holt ein Röntgenbild aus der Schublade: Ein Targon-Nagel hält den Knochen nun zusammen. Das Registrierbändchen um die Elle zeigt: Karl W. ist 88 Jahre alt.
Mehr als jeder zweite Patient hier ist älter als 70 Jahre. Jeder Dritte davon entwickelt ohne nicht-medikamentöse Interventionen ein postoperatives Delir.
Zwei von fünf dieser Patienten wiederum sterben danach an jener und weiteren Komplikationen. Mit Hilfe einer Postoperativen Delir-Studie am Haus konnte man das belegen – mit dem Ziel, die Delir-Rate zu senken.
Delirium
Eine akut-organische Psychose als Reaktion des Gehirns auf toxische Einflüsse, wie nach einer Narkose. Leitsymptom dabei ist die Bewusstseinsstörung in Erleben, Erinnerung, Vorstellung und Denken: Desorientierung, Ratlosigkeit, Angst, Aggression, motorische Unruhe, Störung oder Umkehrung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Auslöser sind häufig Infektionen (unerkannte Harnwegsinfekte, Wundinfektionen), Ortswechsel, Medikamentenentzug, neu oder zu viel angesetzte Arzneimittel sowie Flüssigkeitsmangel.
«Wir haben die Pille gegen Delirien noch nicht entwickelt», erklärt der Chefarzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Prof. Dr. Albert Diefenbacher in seinem gut sortierten, geräumigen Büro.
«Wir müssen daher alles unterbinden, was Orientierungslosigkeit fördert. Das kann banal sein: Wunschkost wählen lassen, Kopfteil höherstellen, Verzicht auf Anti-Dekubitus-Matratzen, Bett umwidmen statt Patient verlegen.» Die Sekretärin bringt Kaffee.
«Es ist noch nicht lange her, da wurden postoperativ delirante, verhaltensauffällige Patienten aus der Somatik zu uns in die Psychiatrie abgeschoben, wo wir diese bändigen sollten», sagt Diefenbacher. Das gehe so nicht: Ärzte und Pflegepersonal hätten Verantwortung für eine anständige Arbeit; dazu gehöre die Delir-Prävention. «Mit der Studie haben wir wachgerüttelt», sagt der Professor.
Der Hochrisikopatient Karl W. kann sich nicht an das geriatrische Clearing in der Notaufnahme und die Befragungen durch das Fachpersonals auf Station zur Erhebung seines Delir-Risikos erinnern.
«Nach der Operation ging es mir mies. Ich wusste nicht wo ich war!» Mit der rechten Hand hält er die Triangel über dem Bett. «Aber die Behandlung ist enorm gewesen! Sie erleichtert das Hier-Sein!» Der ältere Herr gegenüber greift mit der Hand ins Leere. Ich gehe zu ihm, grüsse ihn, berühre ihn am Unterarm und ziehe die Decke über die kühlen Beine.
«Ist es nicht selbstverständlich, demenzfreundlich, oder sagen wir besser, individuell, zu pflegen?» frage ich Eckehard Schlauß, Gerontologe am KEH und seit 2013 Leiter des «Demenz-Delir-Managements». Auf der Delir-Pocket-Card, die alle hier in der Kitteltasche tragen, lese ich die elf nicht-medikamentösen Interventionen zur Delir-Prävention.
Sensorische Hilfen – ich bin verwundert: Ist es nicht selbstverständlich, die Brille bereitzulegen, sie aufzusetzen, wenn ein Patient Assistenz benötigt? Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme (Zahnprothese/Wunschkost)? Sind wir so weit, dass wir es zu einer Ausnahme machen, einem Patienten überhaupt und bestenfalls die gereinigte Zahnprothese zur Wunschkost einzusetzen?