Einer der Verfasser der Beschwerden war Armin Rieger1. Er ist Heimbetreiber in Augsburg und war bis 1995 «verdeckter Ermittler» bei der Kripo. Seine Recherchen zeigen auf: Personalmangel und Pflegemissstände sind Nutzen und Folgen einer gewinnorientierten, politisch ermöglichten Pflegeindustrie
«Es mangelte an genügend Essen, an Hygiene, an Personal», erinnert sich Armin Rieger. Als er im Jahr 2000 Heimleiter am «Haus Marie» in Augsburg wurde, waren die Pflegekräfte am Limit, der Ruf des Hauses trotz grosser Investitionen «phänomenal schlecht».
Mit dem Spürsinn des Drogenfahnders beginnt er die Recherche und gerät dabei mehr und mehr in Wut und Rebellion.
In der Pflegebranche bringe die Auslagerung von Dienstleistungen an externe Anbieter Millionenerlöse, sagt Rieger. Es handle sich meist um eigene Tochterunternehmen, die oft untertariflich zahlten und Küche, Wäscherei und Zimmerreinigung kostengünstiger übernähmen, sagt der Autor von «Der Pflege-Aufstand».
«Auch Wohlfahrtsverbände haben ein ausgeklügeltes System an Tochterunternehmen, die an ihren Namen nicht immer als wohltätig erkennbar sind.»
Armin Rieger
Armin Rieger, geboren 1958, war ursprünglich Polizist in Augsburg bevor er 1995 in die Immobilienbranche wechselte. Als Investor des Pflegeheims «Haus Marie» in Augsburg, einer Einrichtung für demenziell veränderte Menschen, übernahm er 2000 auch gleich dessen Geschäftsführung. Rieger war 2002 Mitinitiant des «Augsburger Pflegestammtisch» und dessen Nachfolgeorganisation «Pflegeforum». 2013 verweigerte er den Behörden den «Pflege-TÜV» am Haus Marie.
Rieger bemängelt, dass in den jährlichen Prüfungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherungen (MDK) und der Heimaufsicht (FQA)2 nur selten ein Personalabgleich zwischen fiktiv verhandeltem Pflegesatz und tatsächlicher Personalausstattung durchgeführt werde.
Nach diesem fiktivem Pflegesatz werde bezahlt, nicht aber geleistet. Im Jahr 2000 nämlich stellte ein MDK bei 18 von 22 Einrichtungen der stationären Altenhilfe bereits eine vertragswidrige Unterschreitung des Personalschlüssels in Pflege und Betreuung fest. Die Abweichungen reichten von mindestens drei bis mehr als zehn Vollkräfte pro Einrichtung.
Laut Pressestelle des MDK Bayern werde kein Personalabgleich mehr durchgeführt. Seit einigen Jahren ist die Prüfung der Personalausstattung ordnungsrechtliche Aufgabe der Kommunen und auch nicht bundesweit einheitlich.
Die FQA prüft zum Beispiel in der Stadt Würzburg die Personalsituation in den Pflegeeinrichtungen, dabei werden Personalplan (Ist-Zustand) und der in den Pflegesatzverhandlungen vereinbarte Personalschlüssel (Soll-Zustand) gegenübergestellt, so Claudia Lother von der Fachabteilung Presse, Kommunikation und LoB der Stadt Würzburg. Bei Abweichungen werde der Mangel im Prüfbericht mit der Bitte um Stellungnahme und Aufforderung zur Änderung festgehalten und die Einrichtung beraten.
Manche Betreiber, so Rieger, nutzten «unvorhersehbare» Personalengpässe oft länger für sich aus als nötig, indem sie zum Beispiel erst dann mit einer nachdrücklichen Suche nach neuen Fachkräften (auch mit sogenannten «Kopfprämien») begännen, wenn bereits gekündigt, der Zeitvertrag abgelaufen oder die schwangere Pflegekraft in Mutterschutz sei.
Ein mit den Pflegekassen und Kommunen ausgehandelter Personaleinsatz könne so monatelang ohne Kürzung des Pflegesatzes unterschritten werden. Damit kommen die Betreiber ganz legal in den Genuss eines «Windfall-Profits» (unerwarteter Gewinn).
Der Gesetzgeber hat das Problem offensichtlich erkannt, doch soll eine Änderung von Personaluntergrenzen bis 1. Januar 2019 lediglich für Intensivstationen, Nachtdienste und andere für die Patientensicherheit besonders notwendige Bereiche an Krankenhäusern kommen.
Gleiche Bemühungen sind für Pflegeheime nicht bekannt. Gerade solche Untergrenzen könnten aber auch dazu führen, dass sie zur Norm werden. «Wenn sich das Ganze aber in grossen Heimen zum System entwickelt, spart man Millionen an Personalkosten auf dem Rücken der Pflegebedürftigen und der Pflegekräfte», sagt Rieger. Die Heimkosten aber bleiben für die Bewohner dieselben.
«Wenn ich dann noch pro Person pro Tag eine Zwischenmahlzeit einspare, sind das bei meinen 33 Bewohnern gerade mal 1200 Euro im Jahr. Bin ich aber Träger von 15’000 Betten, lohnt sich jeder gesparte Cent pro Bewohner pro Tag. Da sind wir gleich im Millionenbereich», so Rieger.
Mit den aktuellen Qualitätskriterien sei das heute kein Problem: Für die Qualitätsprüfung des MDK spiele es keine Rolle, wie das Essen schmecke oder aussehe. Das Kriterium sei bereits erfüllt, wenn der Speiseplan im richtigen Schriftgrad und auf Augenhöhe ausgehängt sei.
Tatsächlich prüft der MDK das Speisenangebot nur pro forma. «Vom gesetzlichen Prüfauftrag her ist es nicht möglich, strafrechtliche Verfehlungen zu erkennen», sagt Dr. med. Ottilie Randzio, Leiterin des MDK Bayern; auch sei der MDK keine «Pflegepolizei». Die FQA prüft gegebenenfalls die Qualität der Speisen durch Probieren, Befragen und Beobachtung der Essenssituation, so Claudia Lother.