Sylvia Kern und der Beirat »Leben mit Demenz«
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Beirat »Leben mit Demenz«

»Nicht über sie, sondern mit ihnen sprechen«

Beirat Leben mit Demenz der Deutschen Alzheimer Gesellaschaft

Der Beirat »Leben mit Demenz« nimmt am Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft die stehenden Ovationen entgegen. Ganz links Sylvia Kern. Bild DAlzG/Thomas Langer

Sylvia Kern hat sich 27 Jahre lang für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen engagiert. Unter anderem war sie Mitgründerin und Begleiterin des Beirats »Leben mit Demenz« der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Nun gibt sie dieses Ehrenamt auf. demenzjournal sprach mit ihr über Teilhabe, Solidarität und Humor.

demenzjournal: Die Besucher der Demenz Meets, unserer Websites und Social-Media-Kanäle sind fasziniert vom Beirat »Leben mit Demenz« und seinen Mitgliedern. Bereits haben Zehntausende die Videos gesehen und lassen sich von Lilo Klotz, Rainer Heydenreich und Co. inspirieren. Du hast den Beirat vor acht Jahren mit ins Leben gerufen. Was war deine Absicht?

Sylvia Kern: Unser Anliegen war immer, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zu verbessern. Dazu braucht es auch einen Austausch auf Augenhöhe mit betroffenen Menschen. Anfangs hatten wir noch Mühe, überhaupt Leute zu finden. Im Beirat waren auch Menschen dabei, deren Krankheit relativ weit fortgeschritten war. Sie haben im Verlauf der Berufungsperiode von zwei Jahren so stark abgebaut, dass die Kommunikation schwer wurde. Diese Beiräte hätten im Unterschied zu den heutigen Mitgliedern keine Vorträge halten können.

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Sylvia Kern wuchs in Baden-Baden auf und studierte in Esslingen Sozialarbeit. Von 1998 bis 2019 entwickelte sie als Geschäftsführerin die Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg zu einer der aktivsten und stärksten Demenz-Organisationen im deutschen Sprachraum. Von 2016 bis in diesem Frühjahr war sie Mitglied des Vorstandes der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. 2017 war sie Mitbegründerin des Beirats »Leben mit Demenz« und betreute ihn bis in dieses Frühjahr zusammen mit Saskia Weiß. Der Beirat kommt zweimal jährlich zusammen, seine Mitglieder sind in mehreren Gremien vertreten und treten an Veranstaltungen auf – unter anderem an den Demenz Meets.

Sylvia Kern und Saskia Weiß
Sylvia Kern (links) mit Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft.Bild Martin Mühlegg

Und jetzt hat der Beirat mehrere Mitglieder, die bei den Demenz Meets oder am Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft die Bühne rocken…

Das wäre am Anfang nicht möglich gewesen. Ich glaube, wir müssen weiterhin eher Menschen berufen, die eine beginnende Demenz haben – im Wissen darum, dass diese Menschen nicht wirklich für weit fortgeschrittene Demenzkranke sprechen können. Wir sind heute auf einem Stand, den ich mir vor acht Jahren nie vorgestellt hätte. Der aktuelle Beirat ist eine Mischung von Menschen, die unterschiedliche Stärken und Schwächen haben und unterschiedlich weit fortgeschritten sind in ihrer Demenz. Aktuell ist niemand dabei, der richtig weit fortgeschritten ist. Das Schöne ist auch, dass in diesem Beirat alle Menschen sich gegenseitig akzeptieren und es keine Rangordnung gibt.

Der Beirat soll auch innerhalb der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Menschen mit Demenz eine Stimme geben und aufzeigen, welche Bedürfnisse sie haben und wo der Schuh drückt. Gibt es Themen, die immer wieder kommen?

Wir sprechen zum Beispiel regelmässig darüber, warum es so schwer ist, Ärzte zu finden, die sich schulen lassen und die etwas verstehen von Demenz. Ärzte, die richtig umgehen mit einem Menschen mit Demenz, der in die Praxis kommt. Warum gibt es da keine bessere Zusammenarbeit und mehr Bewusstsein und mehr Haltung? Das ist ein schwieriges Thema, an dem wir arbeiten müssen.

Und natürlich ist Teilhabe ein grosses Anliegen. Die Mitglieder des Beirates wollen dabei sein. Sie wollen, dass nicht über sie, sondern mit ihnen gesprochen wird. Sie wollen zeigen, dass sie keine Menschen zweiter Klasse sind. Sie wollen präsent sein und viel Öffentlichkeitsarbeit machen. Sie wollen – so weit wie möglich – in Gremien vertreten sein bis hin zu internationaler Ebene. Allerdings sind die Ansprüche unterschiedlich. Es gibt auch Menschen im Beirat, die nicht so stark im Rampenlicht stehen wollen.

Lilo Klotz vom Beirat »Leben mit Demenz« im Interview

Gibt es weitere Themen, die immer wieder kommen?

Ein großes Thema ist die Medikamentenforschung. Aktuell fragen wir uns: Was bringt das neue Medikament Lecanemab, und wie viel Hoffnung kann man damit verbinden? Wir stellen eine Ernüchterung fest. Unsere Beiräte wissen: Es ist immer noch nicht das wirklich große, durchschlagende Medikament, das heilen kann. Insofern glaube ich, dass sie alle eher vorsichtig sind.

Sie werden sicher mit ihrem Arzt drüber sprechen. Und wenn er es ihnen verschreibt, muss er es in einer sehr frühen Phase geben. Einzelne sind da sehr aufgeschlossen. Aber die große Euphorie ist nicht angezeigt. Zumal in unserem Beirat auch Menschen sind, die nicht Alzheimer, sondern zum Beispiel eine Levy-Body-Demenz haben. Denen nützt das Medikament nichts.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Mehrere Beiräte haben ihren Lebenswandel komplett umgestellt, damit die Krankheit langsamer voranschreitet oder vielleicht sogar aufgehalten wird. Einer davon ist Volkmar Schwabe. Heute hat er im Beirat von seinen jüngsten Ausfällen berichtet. Er sagte, dies hätte ihn schwer erschüttert. Wie geht ihr im Beirat mit solchen Erfahrungen um?

In diesen Momenten sind die Betroffenen oft sehr verzweifelt und fallen auch immer wieder in tiefe Löcher. Letztendlich wissen sie, dass nichts die Krankheit final aufhalten kann. Die Euphorie, die sie am Anfang hatten, ist sicher eher verflogen. Da hilft nur das, was Lilo Klotz die radikale Akzeptanz nennt. Wir haben im Beirat über diese acht Jahre immer wieder gesehen, wie Menschen abbauen, und da führt kein Weg dran vorbei. Diese Erfahrung müssen diese Menschen selbst machen und die Gruppe kann hier nur Verständnis, Empathie und Solidarität zeigen.

Uns hat überrascht, wie viel im Beirat gelacht wird…

Ja, es sind sehr lebendige Menschen dabei. Wir wollen keine griesgrämige Weltuntergangsstimmung. Saskia Weiß und ich wollen, dass man locker und fast familiär miteinander umgeht, und das klappt auch sehr gut. Manche Betroffene haben gesagt, wir hätten ihnen das Leben gerettet mit diesem Beirat, weil sie inzwischen ein völlig verändertes Selbstwertgefühl haben. Das freut uns unheimlich! Ja, und einzelne Mitglieder haben auch einen sehr ausgeprägten Humor und necken sich gegenseitig. Wir wissen alle, dass es einem besser geht, wenn man lacht, als wenn man klagt.

Rainer Heydenreich vom Beirat »Leben mit Demenz« im Interview

Die Stigmatisierung ist leider auch im Beirat noch immer präsent. Wir haben heute wieder gehört, dass sich Freunde abwenden und vermitteln: »Du und deine Demenz sind mir zu viel, ich breche den Kontakt ab.« Da kann man sich dann manchmal schon fragen, ob wir mit unserem Engagement in den letzten 20 Jahren wirklich so viel erreicht haben…

Um das Bild der Menschen nachhaltig zu verändern, bräuchten wir riesige Personalressourcen, Strukturen, Kampagnen und so weiter. Es gibt aber Beispiele, die Mut machen. Aids war früher ein gesellschaftlich geächtetes Thema. Da hat man es auch geschafft, das Bild zu drehen. Demenz ist auffälliger, weil sich viele Betroffene nicht konform zu den Erwartungen anderer Menschen verhalten.

Ich denke aber, dass wir sehr wohl viel erreicht haben. Ich glaube, dass die Leute weniger oft die Strassenseite wechseln, weil ihnen ein Mensch mit Demenz entgegenkommt. Wenn man über Demenz spricht, erlebt man heute häufig, dass die Leute demenzkranke Menschen in ihrem Umfeld haben und mehr davon verstehen als früher. Abgesehen davon glaube ich, dass wir alle dazu neigen, mehr über die negativen Beispiele zu reden als darüber, was gut läuft.

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Du hast beim letzten Treffen des Beirates verkündet, dass du dein Ehrenamt im Vorstand der Deutschen Alzheimer Gesellschaft und als Leiterin des Beirates niedergelegt hast. Wie ist deine Gefühlslage heute mit etwas zeitlichem Abstand?

Für mich war das Treffen durchaus eine emotionale Herausforderung. Ich wusste, dass es mein letztes Treffen ist und fühlte mich ein bisschen wie Judas. Es fiel mir sehr, sehr schwer, diesen Menschen zu sagen, dass ich nicht weiter mitmache. Aber es war klar, dass dieser Tag irgendwann kommen musste. Und ich denke, alle Beteiligten haben es gut akzeptieren können. Für mich selbst bleibt eine Wehmut, weil es ganz spannende, liebenswerte und interessante Menschen sind. Aber für mich ist es von meiner Lebensplanung her der richtige Moment.

Was hast du jetzt vor?

Erstens wollen mein Partner und ich viel reisen. Wir haben einen VW-Bus, mit dem wir ziemlich minimalistisch unterwegs sind. Wir haben viel Freude daran, einfach loszuziehen und in der Gegend herumzufahren. Also werden wir jetzt nach Spanien fahren, wo wir auch bei einer Freundin im Hinterland Andalusiens sein werden. Ich liebe das spanische Essen und die spanische Sprache. Wir werden Märkte besuchen und Kirchen anschauen – und natürlich werden wir viel zu Fuss mit unserem Hund unterwegs sein.

Du machst auch Musik. Werden wir dich auf der Bühne sehen?

Nein, auf dem Klavier bin ich zu schlecht, das ist nur für den Hausgebrauch. Aber du könntest mich singen hören mit zwei verschiedenen Chören. Mit dem Bach-Chor Stuttgart treten wir demnächst auch in der Schweiz auf.

Vielen lieben Dank für dein grosses Engagement und dieses Gespräch. Wir wünschen dir gute Reisen und schöne Konzerte!