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Corona im Heim

Allein gelassen und ausgeliefert

In Norditalien verließen die vorwiegend osteuropäischen Pflegekräfte aus Panik vor dem Virus und dem angekündigten Lockdown reihenweise das Land, wodurch der Zusammenbruch in der Altenpflege noch beschleunigt wurde. Daniel Kellenberger

In Deutschland treten die Hälfte aller Covid-19-bedingten Todesfälle in Alten- und Pflegeheimen auf. Rächt sich nun, dass seit Jahren am Personal gespart wird und die Altenpflege zunehmend von Profitinteressen bestimmt wird?

Es waren warme Worte, mit denen sich Bundesseniorenministerin Franziska Giffey am 19. März 2020 an die Öffentlichkeit wandte: Ältere und chronisch kranke Menschen bräuchten jetzt «die Solidarität aller Generationen», so Giffey.

Sie begrüße es deshalb, dass Alten- und Pflegeheime weitgehend für Besucherinnen und Besucher geschlossen würden. «Nur so können die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen in der derzeitigen Situation geschützt werden.»

Was folgte, war für viele der Betroffenen «kein Schutz, sondern eine Qual», wie es eine 86-jährige Heimbewohnerin gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland formuliert hat. Denn wenige Tage später hatten Bund und Länder nicht nur ein komplettes Besuchsverbot in Altenheimen beschlossen.

In etlichen Pflegeeinrichtungen wurde sogar für Bewohner selbst eine absolute Ausgangssperre verhängt. Sie durften ihre Zimmer und die Einrichtung nicht verlassen. Kein Besuch. Kein Spaziergang. Keine Sonne.

Der Nutzen ist mehr als fraglich. Das zeigt eine aktuelle Studie von Forschern der Universität Bremen. Ein Team um die Pflegeprofessorin Karin Wolf-Ostermann hat darin erstmals bundesweit die Situation in Pflegeeinrichtungen und -diensten während der Corona-Pandemie analysiert.

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Darin werteten sie die Antworten einer Online-Befragung von 824 Pflegeheimen, 701 ambulanten Pflegediensten und 96 teilstationären Einrichtungen aus.

Ergebnis: 60 Prozent aller Covid-19-Verstorbenen waren von Heimen oder ambulanten Diensten betreute Pflegebedürftige. Dabei beträgt deren Anteil an allen infizierten Personen nur insgesamt 8,5 Prozent. «Pflegeheime sind damit der wichtigste Ort in Bezug auf Covid-19-Verstorbene», sagt Wolf-Ostermann.

Pflegebedürftige haben in Deutschland ein 50 Mal höheres Risiko an Covid-19 zu sterben als der Rest der Bevölkerung.

Andere Länder hat es noch schlimmer getroffen. Mehr als zwei Drittel der Corona-Toten in Spanien waren Altersheimbewohner. In Kanada und einigen US-Bundesstaaten sind es über 80 Prozent.

Immer wieder zeigt sich: Ob in Spanien, Italien, den USA oder Deutschland – viele Seniorenheime sind in keiner Weise auf eine Epidemie vorbereitet. Angehörige von Pflegefällen berichten von katastrophalen Hygiene-Zuständen in den Heimen. Wochenlang fehlte es an Atemschutzmasken, Desinfektionsmitteln und Schutzkleidung.

Lange Zeit waren zudem keine Tests verfügbar, um potenzielle Infektionsherde zu finden und umgehend an der Ausbreitung zu hindern. Altenpfleger waren überlastet und überfordert. Viele von ihnen hatten Angst, andere Pflegebedürftige, sich selbst und die eigene Familie anzustecken.

Die Angst kommt nicht von ungefähr. Schon vor der Corona-Krise hatten etliche Pflegeheime Probleme mit Krankheitskeimen. Unter anderem deshalb, weil oft die simpelsten Hygiene-Regeln wie das Händewaschen nicht beachtet werden.

Allein in den USA ziehen sich die Bewohner solcher Einrichtungen nach Angaben der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC so jährlich ein bis drei Millionen schwere Infektionen zu. Schätzungsweise 380’000 der Fälle enden tödlich.

Zu Beginn der Corona-Krise ergriffen daher viele Pflegekräfte schlicht die Flucht. In Norditalien verließen die vorwiegend osteuropäischen Pflegekräfte aus Panik vor dem Virus und dem angekündigten Lockdown reihenweise das Land, wodurch der Zusammenbruch in der Altenpflege noch beschleunigt wurde. Viele hilfebedürftige Senioren waren von einem Tag auf den anderen auf sich gestellt.

Anfang April geriet eine Seniorenresidenz in Dorval bei Montréal (Kanada) in die Schlagzeilen.

Fast alle Pflegekräfte hatten das Heim aus Angst vor einer Ausbreitung des Virus fluchtartig verlassen.

Die Gesundheitsbehörden fanden die Bewohner erst Tage später. Viele der Überlebenden lagen in verschmutzten Betten, dehydriert, unterernährt, teilnahmslos. Zwei Todesfälle blieben tagelang unbemerkt.

Der Gestank von Kot und Urin in den Zimmern hätte «ein Pferd umbringen können», berichtete eine Helferin dem kanadischen TV-Sender Global News. Am Ende hatten sich nur noch zwei Pfleger um die 130 Überlebenden gekümmert.

Das Heim galt als luxuriöse Seniorenresidenz. Pro Bewohner kassierte die Einrichtung mehrere Tausend Dollar für Pflege und Unterkunft. Die Eigentümerin der Einrichtung, eine Immobilienfirma namens Katasa, wollte sich gegenüber kanadischen Medien nicht zu dem Vorfall äußern.

Eine Sprecherin des Unternehmens, dem neben sechs weiteren Altersheimen mehrere Wohn- und Geschäftshäuser gehören, beteuerte, dass die Firma ihr Bestes tue, «um das Personal zu schützen und den Bewohner unter den schwierigen Umständen zu dienen».

Doch als Mitarbeiter der zuständigen Gesundheitsbehörde Einblick in die Akten der Bewohner nehmen wollen, verweigert ihnen das Unternehmen den Zugriff. Erst ein Erlass der Regierung schaffte Abhilfe.

Tatsächlich scheinen sich die Probleme und die Todesfälle gerade in den Altenheimen privater Betreiber zu häufen.

Beispiel Spanien. Dort haben inzwischen hunderte Angehörige von Corona-Opfern Anzeigen gegen die Betreiber von Senioreneinrichtungen eingereicht. Auffallend viele, berichtete die Patientenorganisation Defensor del Paciente, richten sich gegen die Altersheimgruppe Orpea.

Das Unternehmen gehört zu den Big Playern der Szene und betreibt in ganz Europa größere Altersheime und Tagessstätten. Insgesamt befindet sich fast ein Drittel aller Pflegeheimplätze in Spanien in der Hand privater Investoren. Marktführer in Spanien ist das Unternehmen DomusVI, an zweiter Stelle folgt Orpea.

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Beide Firmen zählen zu einem neuen Betreiber-Typ, der sich zunehmend im Pflegemarkt etabliert. Weltweit investieren sogenannte Private Equity-Gesellschaften verstärkt in Altenheime und Gesundheitseinrichtungen. Eine Entwicklung, die Fachleute und Patientenvertreter seit Jahren mit Sorge verfolgen.

Mehrfach hat sich gezeigt, dass es den Betreibern mehr um Rendite als um das Wohl der Bewohner und Patienten geht.

Schon kurz nach der Übernahme wird rigoros an Personal gespart und gleichzeitig die Auslastung der Betten erhöht.

Parallel dazu geht es mit der Qualität der Pflege und der Gesundheit der Senioren bergab.

Dass das kein leerer Vorwurf ist, belegt eine Studie, die Forscher der New York Stern School of Business im Februar dieses Jahres veröffentlicht haben. Darin hatten die Wissenschaftler Daten von rund 18’500 Pflegeheimen in den USA aus den Jahren 2000 bis 2017 untersucht, darunter fast 1700 Einrichtungen, die in dieser Zeit von Private Equity Firmen gekauft worden waren.

Rund 70 Prozent aller Senioreneinrichtungen in den USA befinden sich in der Hand profitorientierter Unternehmen. Seit Anfang der 2000er Jahre hat der Anteil von Private Equity Firmen deutlich zugenommen.

Das Resultat der US-Studie dürfte den Investoren wenig gefallen.

«Wir haben zuverlässige Beweise dafür gefunden, dass sich nach solchen Buyouts die Gesundheit der Patienten verschlechtert und Pflegestandards weniger berücksichtigt werden», resümieren die Forscher. Hauptursache dafür: der drastische Abbau von Personal. Genau an dieser Stelle nämlich lassen sich die meisten Kosten sparen.

Gelingt es dem Betreiber, gleichzeitig auch noch die Bettenbelegung zu steigern, zahlt sich das richtig aus, sagt Atul Gupta von der Universität von Pennsylvania, der an der Studie beteiligt war: In einem durchschnittlichen von einem Private-Equity-Investor betriebenen Heim bringt ein solches Effizienz-Steigerungs-Programm dem Betreiber jährlich 770’000 US-Dollar ein.