Liebe Mama
Erinnerungen sind mehr als Erzählungen von der Vergangenheit, es sind unbewusste Erfahrungen – und die sind auch mit Demenz noch da. Schön, wenn es gelingt, sie hervorzulocken – wie beim Tanzen.
Auf der Rückfahrt von meinem letzten Besuch bei euch habe ich mal wieder dieses Lied von Alexa Feser gehört. «Linie 7» heisst es und ich mag es sehr. Alexa Feser singt darin über eine Frau, die Maria heisst, vier Kinder hat und Ärztin war. Aber sie weiss all das nicht mehr und wohnt in einem Pflegeheim.
Dieses Lied ist so traurig, aber ich mag es, weil es mich in meiner Traurigkeit über deine Alzheimererkrankung gut abholt. Normalerweise. Aber an diesem Tag neulich, da dachte ich, dass das alles gar nicht stimmt. Schuld daran war die Liedzeile: «Nun weiss ich, wie es sich anfühlt, wenn einem alles fehlt.»
Ich war in den vergangenen Wochen viel mit dir zusammen und habe gemerkt, dass das nicht stimmt. Klar, von aussen betrachtet könnte man vermutlich sagen, dass dir «alles fehlt». Du brauchst in jedem Bereich Hilfe und Unterstützung, ob das nun beim Essen, Anziehen oder Ins-Bett-Gehen ist.
Ich erinnere mich, dass du im vergangenen Jahr noch zügig eure Spazierstrecke marschiert bist.
Und mit grossem Schrecken denke ich daran, wie du weggegangen bist und ich dich im Dorf gesucht habe. Mittlerweile gehst du nur wenig und wenn, dann sehr langsam. Hinsetzen, Aufstehen, Treppengehen – all das sind manchmal richtige Herausforderungen für dich (und auch für uns).
Bist du woanders?
Liebe Mama, du ruhst oft in dir. Du schliesst die Augen, selbst wenn wir am Tisch sitzen und noch mitten beim Mittagessen sind. Papa oder ich reichen dir das Essen und du isst mit geschlossenen Augen. Manchmal habe ich das Gefühl, du bist dann woanders. Selbst, wenn du auf der Couch neben mir bist, scheinst du so weit weg zu sein. Weil du nicht mit uns sprichst und wir unsere Gedanken nicht teilen können.
Aber du bist ja da. Du sitzt direkt neben mir. Natürlich bist du da!
Und ich glaube, genauso ist es mit deinen Erinnerungen. Sie sind nicht verschwunden. Sie sind auf den ersten Blick nicht präsent, weil du nicht davon erzählst. Sie sind vielleicht nicht mal auf den zweiten Blick präsent, weil du nicht reagierst, wenn wir davon erzählen. Aber deine Erinnerungen sind da! Da bin ich mir sicher. Sie sind irgendwo in dir, ganz bestimmt.
Helfen dir deine Erinnerungen?
In meinem Kopf wuseln manchmal hunderte Erinnerungen durcheinander. Gerade jetzt, wo meine Kinder spürbar grösser und selbstständiger werden, denke ich an viele Momente aus der Schwangerschaft und Babyzeit.
Diese Erinnerungen machen mich ein wenig wehmütig, aber ich fördere und fordere sie durchaus in manchen Momenten. Sie sind wichtig für mich, weil sie mir helfen, mich in meiner Rolle als Mutter zu bestätigen und diese Mutter-Kind-Bindung stärken.