Wenn ich die Bilder oder Berichte aus Italien und Spanien sehe, bekomme ich Angst. Nicht so sehr um mich und die Kinder. Wir sind jung und haben keine Vorerkrankungen. Aber wie ist es mit dir und Papa? Ihr gehört in mindestens eine Risikogruppe – und ich habe Angst, dass ihr euch anstecken könntet.
Denn die Wahrscheinlichkeit eines schweren Erkrankungsverlaufs liegt bei euch höher als bei mir. Deswegen möchte ich nicht, dass ihr einkaufen geht. Zum Glück gibt es Verwandte und viele Nachbarn, die euch jetzt unterstützen. Deswegen erkläre ich Papa jedes Mal, dass ihr diese Hilfen unbedingt auch annehmen solltet.
Ich rufe momentan häufiger bei euch an, um Papa ein bisschen Abwechslung zu sein und ich hoffe natürlich, dass du dich dann auch über die Stimmen deiner Tochter und Enkeltöchter freust.
Du bist in deiner kleinen Anders-Welt. Ich weiß nicht, wie es dort ist und wie du dich fühlst, aber du wirkst oft sehr zufrieden.
Von dieser Pandemie bekommst du nicht viel mit – und manchmal ertappe ich mich, wie ich dich darum beneide.
Corona schmeisst unsere Pläne um
Du kannst momentan nicht in die Tagespflege gehen. Papa sagt, dir geht es gut. Ich weiß, er kümmert sich liebevoll um dich. Er kocht für dich, ihr geht spazieren und hört eure Schlagermusik. Ja, es ist jetzt noch einsamer bei euch als sonst, weil mein Bruder und ich nur anrufen, aber euch nicht besuchen.
Und wie gerne wären wir bei dir, liebe Mama. Eigentlich hätten wir Ostern alle zusammen verbracht. Ich werde traurig, wenn ich daran denke, dass dieses Ostern so ganz anders wird, als ich es mir gewünscht habe.
Ostern ist nicht das einzige, das anders wird als geplant. Ich war so voller Vorfreude auf den Sommer. Ich wollte bei einer großen Veranstaltung als Speakerin auftreten und über unsere Erfahrungen mit Alzheimer sprechen.
Das war so eine Chance – und so wichtig, denn ich glaube, dass Angehörige eine viel stärkere Stimme erhalten sollten. Sie sind diejenigen mit der Erfahrung und der Austausch untereinander bringt so viel Wertvolles. Und nun?
Kontrollverlust durch das Coronavirus
Nun muss ich mich irgendwie neu finden. Ich muss mich von manchen Plänen verabschieden. Ich merke auch, wie ich an meine Grenzen komme mit all meinen Ideen. Das macht mich auch traurig – und in manchen Momenten fühle ich mich hilflos.
Der Psychoanalytiker Hans Jürgen Wirth spricht im Spiegel von einem Kontrollverlust: «Das Coronavirus ist sehr mächtig, es bestimmt gegenwärtig unser aller Leben in einem vor Kurzem noch unvorstellbaren Ausmaß, seine Ausbreitung und seine Auswirkungen auf das Kollektiv wie auf den Einzelnen sind unberechenbar. Es wirft alle Planungen über den Haufen.»
Kontrollverlust durch die Diagnose Alzheimer
Mittlerweile, wo du in deiner kleinen Anders-Welt lebst, bist du entspannt. Aber ich erinnere mich, was für eine wahnsinnige Situation es damals für dich und uns war, als du die Diagnose Alzheimer bekommen hast.
Du warst 55 Jahre alt, standest mitten im Berufsleben – und dann so eine Diagnose. Eine Krankheit, die nicht heilbar ist, die vielleicht langsam voranschreitet, aber dir immer mehr von deinen Erinnerungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten nehmen wird.
Die Alzheimer-Diagnose hat all deine Pläne über den Haufen geworfen. Sie hat hat dir Angst gemacht. «Die Tränen kullern einfach so. Ich weiß auch nicht, warum», hast du mir einmal geschrieben.
Häufig bist du auch zu Hause einfach in Tränen ausgebrochen. Du standest im Flur und hast so bitterlich geweint.
Wir haben dich in den Arm genommen und dich getröstet, aber die Krankheit konnte und kann keiner verjagen.
Ich habe damals selbst versucht, irgendwie weiter zu funktionieren. Wie wir alle. Natürlich waren wir an deiner Seite und haben gemeinsam überlegt, wie es weitergehen soll. Aber über unsere Gefühle haben wir nicht so viel gesprochen.
Diese Corona-Krise lässt mich deine Gefühle von damals vermutlich sehr gut nachempfinden – und ich schreibe vermutlich, weil ich mit dir nicht mehr darüber sprechen kann, ob es wirklich so ist. Zumindest aber, das weiß ich sicher, empfinde ich diesen Kontrollverlust als sehr einschneidend.
Chancen aus der Krise
«Euch geht es doch gut. Du brauchst keine Angst haben», beruhigte mich eine liebe Freundin vor ein paar Tagen. Ich habe gar nicht so viel Angst, dass wir tatsächlich erkranken, es ist diese Panik, mein Leben nicht mehr kontrollieren zu können. Und dabei ist das doch sowieso eine Illusion gewesen, oder?
Ich kann mein Leben nicht kontrollieren. Psychoanalytiker Wirth erklärte dazu im Spiegel, es sei das Lernziel in dieser Krise «anzuerkennen, dass wir sehr vieles passiv erleiden müssen, dass uns widerfährt.»