Liebe Mama, du kannst noch so viel – ich sehe es nur oft nicht
«Wir sollten nicht nur die Defizite sehen, die die Krankheit mit sich bringt, sondern die Menschen mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Können.»
Bild Peggy Elfmann
Wenn Freunde mich fragen, wie es meiner Mutter geht, seufze ich und erzähle, dass sie nichts mehr alleine machen kann. Doch kürzlich habe ich gemerkt, dass das gar nicht stimmt. Ein Brief an meine Mama, in dem es auch um Teilhabe von Menschen mit Demenz geht und wie wir als Gesellschaft so ticken.
Normalität. Ich erinnere mich, dass wir nach dem grossen Schock deiner Alzheimer-Diagnose ziemlich schnell zur Normalität zurückgekehrt sind. Für dich (und auch für uns) hatte sich mit dem Wissen um deine Krankheit die Welt geändert und wir hatten Angst vor der Ungewissheit.
Das normale Alltagsleben gab Sicherheit. Denn eigentlich wollte niemand von uns, dass sich etwas verändert.
Ich konnte nicht glauben, dass meine liebe, fröhliche, schlaue, fitte Mama so eine Krankheit wie Alzheimer haben konnte. In meinem Kopf hatte ich sofort Bilder von einem Pflegeheim und dir als hilflose Person mittendrin gesehen. Was hab ich geweint. Aber das muss ich dir nicht sagen, du hast noch viel mehr Tränen vergossen.
Liebe Mama, ich möchte mich entschuldigen
Wie beruhigend war es doch, dass das Leben ziemlich normal weiterging. Erstmal. Denn natürlich kamen nach und nach die Probleme und Herausforderungen. Die Seufzer über die Dinge, die du nicht mehr konntest. Von Papa, der das alltäglich beobachtet und miterlebt, wie ihn seine Frau und Begleiterin immer ein wenig mehr verlässt.
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Aber die Seufzer kamen auch von mir. Anfangs war ich auch mal genervt, weil Dinge nicht mehr klappten und du statt sechs Teller nur fünf auf den Tisch gestellt hattest. Heute ärgere ich mich darüber, dass ich manchmal gestresst oder genervt war, anstatt dich zu unterstützen. Vor allem aber ärgere ich mich darüber, dass ich so oft darüber gesprochen habe, was nicht mehr geht.
Warum habe ich auf die Defizite geschaut, anstatt zu sehen und wertzuschätzen, was du kannst?
Warum sehe ich oft nur den Verlust, aber nicht das, was du neu gewonnen hast? Ich möchte mich bei dir dafür entschuldigen, denn es tut mir leid. Du hast ja selber gemerkt, was nicht mehr funktioniert, du hättest von uns mehr Optimismus hören sollen.
Du kannst viele kleine Dinge – und bringst mich zum Nachdenken
Wenn Freundinnen oder Bekannte mich fragen, wie es dir geht, verfalle ich oft in ein tiefes Seufzen und erzähle davon, dass du in deiner kleinen Welt lebst und nichts mehr alleine machen kannst. Dass du nicht mehr essen kannst und nicht mehr Treppen gehen kannst. Dass du Papas Hilfe bei den einfachsten Dingen brauchst und wie traurig es mich macht, dich so hilflos zu sehen.
Doch als ich neulich bei euch war und viel Zeit mit dir verbracht habe, habe ich gemerkt, dass das gar nicht stimmt. Denn du kannst noch so viel – ich sehe es nur oft nicht.
Es fing am Morgen an. Wir haben gefrühstückt und ich habe dir die Tasse mal nicht zum Mund geführt, damit du einen Schluck Kaffee nehmen kannst, sondern ich habe dir den Henkel in die Hand gegeben.
Und du hast die Tasse genommen, hast sie angehoben und alleine getrunken. Ich habe meine Hand stützend darunter gehalten, aber das war eigentlich nicht notwendig, denn du brauchtest die Hilfe nicht.
«Mama trinkt alleine», habe ich freudig gerufen und mich gefühlt wie eine stolze Mutter, deren Baby zum ersten Mal alleine aus einem Glas oder Fläschchen trinkt.
Später gab es ein kleines Toiletten-Missgeschick und du brauchtest neue Kleidung.
Papa hat dich gewaschen, war aber in Eile, also habe ich dir beim Anziehen geholfen.
Ich hatte Zeit und wir haben ganz langsam gemacht. Ich habe dir geholfen, die Hose anzuziehen, und dann standest du da und hast das Bündchen mit deinen Händen noch mal etwas höher gezogen, sodass die Hose besser sitzt.
Es war eine winzige Kleinigkeit, die ich da beobachtet habe und doch hat sie mich sehr zum Nachdenken gebracht. Warum habe ich nicht gesehen, dass du mitmachen kannst?
Wie können Menschen mit Demenz teilhaben?
Dabei ist es doch so wichtig, dass du ein Teil sein kannst und dass du in deinem eigenen Tempo und Können handeln kannst.
Ich habe in den vergangenen Woche immer mal wieder mit Benni gesprochen. Er hat ebenfalls Alzheimer, noch in der Frühphase, und kann sich gut äussern. «Ich möchte nicht krank sein, ich möchte weiter ein Teil der Gesellschaft und unter Menschen sein», hat er gesagt. Wie können Menschen mit Demenz teilhaben?
Ich bin überzeugt davon, dass das extrem wichtig ist. Um die Selbstständigkeit zu erhalten und das Selbstbewusstsein zu stärken. Um nicht nur die Demenz zu sein, sondern immer noch und vor allem der Mensch.
Die Stärkung des Selbst ist zentral
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Ja, da muss sich in der Gesellschaft einiges ändern, aber ich kann nicht nur auf andere verweisen. Jeder Angehörige und jeder Pflegende kann bei sich anfangen.
Liebe Mama, ich glaube, wir bekommen das gut hin, und es ist auch gar nicht so kompliziert. Wir müssen eigentlich nur auf dich schauen.
Wenn ich auf das achte, was du kannst, und dich dabei unterstütze, stärkt dich das.
Wenn ich dir dein Tempo lasse und mich auf dich einlasse, tut dir das gut. Und wenn ich dich ernstnehme, mit und trotz Alzheimer, dann bestätigt dich das.
Du kannst noch viel – und ich möchte meinen Freundinnen erzählen, was du kannst und wie du hilfst. Denn Menschen mit einer Demenz-Diagnose sind ein Teil von uns und unserer Gesellschaft.
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Es wäre doch schön, wenn wir unser Bestes tun, damit du und der Rest der 1,6 Millionen Menschen mit der Diagnose Demenz teilhaben können. Wenn wir nicht nur die Defizite sehen, die die Krankheit nun einmal mit sich bringt, sondern die Menschen mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Können.
Liebe Mama, ich fände das schön. Und du? Ich kann dich in Gedanken fragen – und bin mir sicher, du würdest mir zustimmen.
«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»
Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich
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